Im August in Osage County
Die Westons, da lässt sich nichts beschönigen, sind eine schrecklich fiese Familie. Bei Mama geht nichts mehr ohne ihre „kleinen Helfer“. Papa ertränkt den Frust im Whisky. Und die drei erwachsenen Töchter hatten sich ihr Leben auch irgendwie anders vorgestellt.
Alle schleppen eine alte Schuld mit sich herum oder verbergen ein dunkles Geheimnis, und jeder hat mit jedem noch eine Rechnung offen. Kein Wunder, dass sie während der letzten Jahre lieber auf Abstand gegangen sind. Und noch weniger verwundert es, dass jetzt, wo ein Schicksalsschlag sie alle in der alten Heimat in Oklahoma vereint, es ganz schnell gehörig scheppert.
Es gibt nichts Schlimmeres als eine kaputte Familie, und nichts Schöneres, als einer kaputten Familie beim Keifen und Zetern zuzuschauen, so in etwa lautet die Devise von Tracy Letts, dem Autor von „August: Osage County“. Sein Bühnenstück, das er selbst für die große Leinwand adaptierte, ist eine schwarzhumorige Dramedy, die lustvoll die inneren Mechanismen des Weston-Clans seziert, einer alles andere als typischen amerikanischen Großfamilie. Dabei geht es um die Gräben zwischen den Generationen, den Kampf der Geschlechter und um Fehler, deren Konsequenzen sich früher oder später nicht mehr geheimhalten lassen.
Im Zentrum steht Violet Weston, eine schillernde Matriarchin, die nie ein Blatt vor den Mund nimmt. Benebelt und enthemmt von einem Dauercocktail aus Schmerz- und Beruhigungsmitteln, um ihr Krebsleiden erträglicher zu machen, hat sie sich in einen Familiendrachen verwandelt, dessen sarkastischem Biss keiner entgeht.
Als ihr Mann Beverly, ein klassischer „Hemingway“, spurlos verschwindet und später tot aufgefunden wird, schart sie ihre engsten Verwandten um sich: ihre älteste Tochter Barbara, deren Ehe mit dem College-Professor Bill gerade in die Brüche geht, und die sich gleichzeitig mehr und mehr von ihrer pubertierenden Tochter Jean entfremdet.
Die Zweitgeborene Karen bringt ihren neuen Freund Steve mit - Kategorie: charakterliches Leichtgewicht. Und die jüngste Tochter Ivy, die den Absprung aus dem Elternhaus noch nicht geschafft hat, aber keineswegs die alte Jungfer ist, für die sie alle halten, hat nämlich ein Verhältnis mit Cousin Little Charles, dem schüchternen Sprössling von Violets Schwester Mattie Fae (vermutlich ein Wortspiel in Anbetracht ihrer Figur) und dessen Mann Charles, die ebenfalls zur Beerdigung anreisen und jede Menge eigene Probleme mitbringen.
Die dysfunktionale Familie ist also das Thema des Stücks - und zwar in all ihren Facetten und Spielarten. Regisseur John Wells macht daraus eine emotionale wie bildmächtige Achterbahnfahrt, bei der man sekündlich mit neuen Offenbarungen und Enthüllungen rechnen darf, mit einem packenden Überfluss an Geschichten und Geschichtchen, die trotz hohem Tempo und noch höherem Spaßfaktor nie Gefahr laufen, ins Süßliche oder Harmlose abzugleiten.
Unbestrittener Höhepunkt dieser Tour de Force ist der Leichenschmaus, bei dem sich alle Familienmitglieder zum ersten (und auch zum letzten) Mal gemeinsam an einen Tisch setzen. Wie Violet Weston da jeden Anwesenden der Reihe nach kunstvoll abkanzelt, und wie sich die düpierte Barbara schließlich hemmungslos fluchend zur Wehr setzt – das ist der Stoff, aus dem die großen Kinoszenen sind, jene seltenen magischen Momente, in denen Filmgeschichte geschrieben wird.
Eigentlich sollte man es kaum noch für möglich halten, aber Meryl Streep gelingt es hier erneut, eine ebenso einzigartige wie grandiose Figur zu erschaffen, eine verbitterte, unberechenbare und garstige Diva, wie sie früher vielleicht von der großen Bette Davis gespielt worden wäre. Und Julia Roberts ergreift dankbar die Gelegenheit, eine von Zorn und Gram geprägte, sehr irdische Ehefrau und Mutter zu verkörpern, die meilenweit entfernt ist von ihrem lächelnden Pretty-Woman-Image.
Bei diesem Film zählt die Interaktion der Figuren. Die Dialoge sind sorgfältig ausgefeilt und kommen derart natürlich herüber, dass man zum Ende des Films so gut wie alles über die Familie weiß, und man froh ist, dieses Drama überstanden zu haben - genauso wie viele der Zuschauer die Festtage mit ihren Familien in Erinnerung haben. Das ist allerdings auch der Knackpunkt des Films. Es ist zwar sehr unterhaltsam, dem Gezeter und Gekeife beizuwohnen, doch am Ende verpufft das Ganze mit Barbaras Flucht in die Stille der Wüste, ohne weiter auf die anderen Figuren einzugehen - als wenn man kurzzeitig in einem Hühnerstall das Licht anstellt.
Keine der beteiligten Figuren bekommt ein positives Ende beschert - alles geht in die Brüche und verteilt sich wieder in alle Himmelsrichtungen. Ein wenig mehr „Drumherum“ hätte dem Film (und den Figuren) zumindest mehr Tiefe verliehen. So ist es lediglich ein verfilmtes Bühnenstück, bei dem der Vorhang fällt und der Zuschauer mit gemischten Gefühlen das Theater verlässt.
Das Bühnenstück von Tracy Letts begann seinen Siegeszug 2007 am Steppenwolf Theatre in Chicago. Es folgten 650 Aufführungen am New Yorker Broadway, ein Pulitzerpreis und erfolgreiche Theateradaptionen auf der ganzen Welt. Die Kinoadaption wurde unter anderem von den letztjährigen Oscar®-Gewinnern George Clooney und Grant Heslov produziert.
Filme um Familienfeste gibt es bereits eine Menge. Dieser Film zeigt lediglich als Unterschied eine Familienzusammenkunft jenseits von Feiertagen und Hochzeiten - ansonsten birgt der Film wenig Neues. In Anbetracht dessen, und einer fehlenden Pointe, ist der Film vermutlich deswegen auch bei den großen Filmpreisverleihungen leer ausgegangen. Im August in Osage County (startet im März!) bietet gutes, fast schon grandioses Spiel, aber auch nicht viel mehr. ■ mz