Pride
© Senator
1984 begann die britische Gewerkschaft der Bergarbeiter ihren landesweiten Streik, um damit gegen die geplante Schließung von Kohleminen im ganzen Land zu protestieren. Thatchers Regierung reagierte nicht nur mit harten, sondern nicht selten brutalen Maßnahmen. Unter den Gruppierungen, die die streikenden Arbeiter unterstützten, war auch eine Gruppe von schwulen und lesbischen Aktivisten aus London. Nach der Gay-Pride-Parade im März des gleichen Jahres hatten sie sich entschlossen, Geld für die Streikkasse zu sammeln.
Immerhin hatte man es ja mit den gleichen Gegnern zu tun: der Thatcher-Regierung, der Polizei und der Boulevardpresse. Die Gruppe nannte sich selbst Lesbians and Gays Support the Miners (LGSM). Und weil die Gewerkschaftsführung ihre ersten Spenden nicht annehmen wollte, machten sich die Männer und Frauen selbst in einem Kleinbus auf den Weg, um in einem entlegenen Dorf in Wales das Geld persönlich zu übergeben. So nahm eine unglaubliche Geschichte von Freundschaft und Solidarität ihren Anfang, die jene ereignisreichen 12 Monate überdauerte, in denen die LGSM zu einem der größten Spendensammler in ganz Großbritannien wurde.
Basierend auf diesen wahren Ereignissen ist Pride ein Film über zwei höchst unterschiedliche Welten, die zunächst aufeinander prallen und sich dann miteinander verflechten. Er ist die mitreißende Feier der Allianz zweier grundverschiedener Gruppen von Menschen, die durch ihren gemeinsamen Kampf gegen Unterdrückung zusammenfanden, Vorurteile zerschlugen und nebenbei überraschende Freundschaften schlossen.
Die Geschichte erzählt davon, was passiert, wenn Gemeinschaften sich gemeinsamen Feinden in den Weg stellen. David Livingstone erklärt, warum der Film so viele verschiedene Menschen anspricht: »Der Film ist sowohl witzig als auch bewegend, aber eben auch wahr. Deswegen ist es umso eindrucksvoller zu sehen, wie diese beiden Gruppen auf verschiedenen Seiten stehen, aber dann eben doch zusammenfinden. Zu realisieren, dass diese Geschichte so passiert ist und die meisten dieser Figuren real existieren, ist für jedermann berührend und letztlich extrem lebensbejahend.«
Obwohl die Geschichte der LGSM nur eine kleinere Anekdote im großen Kontext des damaligen Streiks war, ist Beresford überzeugt davon, dass sie eine große und nachhaltige politische Wirkung hatte: »Die Geschichte ist unglaublich wichtig und ich glaube, dass die LGSM unbeabsichtigt manche Grenze eingerissen hat. Das hatte zur Folge, dass das Thema schwul-lesbischer Rechte nicht mehr nur eines für die eigene Community war, sondern auch eines für die Labour-Partei und den Gewerkschaftskongress wurde. Die Gemeinde in Wales war sehr erpicht darauf, über diese jungen Menschen von damals zu sprechen, und endlich deren Errungenschaften zu würdigen. Denn das war ihrer Meinung nach bislang kaum geschehen.«
Regisseur Matthew Warchus, der während des Streiks damals gerade 18 Jahre alt wurde, verbindet selbst viel Persönliches mit der Geschichte. Er verbrachte die prägenden Jahre seines Lebens in einem kleinen Dörfchen in Yorkshire, im Schatten von Europas größtem Kohlekraftwerk. »Diese hochmodernen Minen waren damals nicht von einer Schließung bedroht«, erinnert er sich. »Aber ich erinnere mich noch gut an Streikposten vor den Toren des Kraftwerks auf meinem Weg zur Schule. Dieser heute historische Konflikt war eines der traurigen Ereignisse in meiner Jugend, die von Bomben-Probealarm, IRA-Attentaten und dann natürlich AIDS geprägt war.«
Das Drehbuch führte Warchus auch noch einmal die enorme Wandlung der gesellschaftlichen und kulturellen Landschaft Großbritanniens vor Augen, die sich in den letzten 30 Jahren zugetragen hat: »Heute kann man vielleicht nicht nachvollziehen, warum damals jemand für sein Recht kämpfte, zu miesen Bedingungen unter Tage malochen zu dürfen. Aber 1984 wussten die Bergarbeiter, dass das alles war, was sie hatten, auch für kommende Generationen.
„Ich kämpfe für das Recht meines Sohnes auf Arbeit.“ Das stand damals auf vielen Schildern der Streikenden. Wir wissen heute, dass es damals um viel mehr ging als nur um wirtschaftliche Aspekte. Das war ein Schlüsselkampf in einem sehr viel größeren Krieg der Ideologien: Gemeinwohl gegen Eigeninteresse, Gesellschaft gegen Individuum, Sozialismus gegen Kapitalismus.
Einige Jahre nach dem Streik sagte Margaret Thatcher, dass es so etwas wie die Gesellschaft gar nicht gäbe. Nur individuelle Männer und Frauen sowie Familien. Die Protagonisten in Pride sind überzeugte Anhänger der gegenteiligen Meinung. Sie glauben an die Stärke der Gesamtheit. Dass uns das heutzutage erfrischend vorkommt, zeigt nur, wie weit wir davon weggedriftet sind.
War Thatcher also erfolgreich darin, unsere Denkweise zu verändern? Auf jeden Fall hat sie unseren Wortschatz verändert. Ich erinnere mich noch gut, wie ich beim Bahnfahren von einem Zugpassagier zu einem Kunden wurde. Anfangs dachte ich noch, diese neue Bezeichnung sei amüsant und würde sich nicht durchsetzen. Aber als irgendwann British Telecom an die Börse ging und Sozialwohnungen zum Verkauf standen, war das Abrutschen der gesamten Gesellschaft in den Kapitalismus endgültig nicht mehr aufzuhalten.
Heute sind wir scheinbar nur noch eine Horde von Individuen, getrieben vom Eigennutz und immer nur auf der Suche nach dem Lottogewinn des Lebens, nach dem großen Durchbruch. Überall wird suggeriert, dass es nur um dich geht, nur auf dich ankommt. Nicht du und deine Kumpel zählen. Nur du!«
Doch gerade weil das Drehbuch es vermeidet, den Zeigefinger zu erheben oder zu politische Botschaften zu predigen, gefiel es Warchus so gut: »Beide Gruppen, um die es im Film geht (also die LGSM und die walisischen Bergarbeiter) sind natürlich politisch eingestellt. Aber das, was sie für uns so reizvoll macht, ist ihre Menschlichkeit. Pride geht es um viel größere Themen, um Großzügigkeit und Mitgefühl.
Als ich mich an den Schnitt des Films setzte, fiel mir nach und nach auf, dass er im Grunde eine ganz klassische romantische Komödie ist. Denn er zeigt auf humorvolle Weise, wie sich zwischen zwei höchst unterschiedlichen Parteien über alle Widerstände hinweg eine tolle Beziehung entwickelt. Nur dass es hier eben nicht um zwei Individuen geht, sondern um zwei Gruppen oder Gemeinschaften. Und es ist nicht eine romantische Liebe, die sie antreibt, sondern das Mitgefühl. Ich denke, dass wir dadurch an das Konzept von Gemeinschaft erinnert werden. Und daran, dass es eben doch so etwas wie eine Gesellschaft gibt.«
Ähnlich wie bei We want Sex (Made in Dagenham) steht ein wirtschaftliches Thema im Mittelpunkt der Geschichte. Aber wie auch in dem Film um die Gleichbezahlung der Arbeiterinnen im Ford-Werk gelingt es den Briten auch hier, aus einem unbequemen Stoff eine unterhaltsame Geschichte zu basteln. Gepfeffert mit ein wenig Humor und sympathischen Figuren, mit denen man als Zuschauer mitfiebert, schafft es der Theater erfahrene, Tony®-prämierte Regisseur Matthew Warchus, einer Anekdote von vor 30 Jahren Leben einzuhauchen.
Schauspieler Stephen Beresford gibt mit Pride seinen Einstand als Drehbuchautor, was man dem Film auch ansieht. Er ist gut erzählt, doch verliert er ein wenig die Hauptfigur aus dem Augenmerk. Der Film beginnt mit dem von George MacKay gespielten Joe, der rein zufällig in die demonstrierende Gruppe schwul-lesbischer Minenarbeitersympathisanten geriet und sich ihnen anschließt. Doch die Masse an neuen Figuren, denen ebenfalls ein wenig Tiefe eingeräumt werden muss, macht es für einen Autor schwer, den Fokus zu behalten.
Aber vielleicht ist das auch so beabsichtigt. Joe nimmt den Zuschauer huckepack durch die Geschichte, als wär man die Begleitung auf einer Party. Und in gewisser Hinsicht war das auch eine Party damals. Da war was los! Damals wurde noch was bewegt! Gerade weil in der Geschichte so viele Figuren vorkommen, war es Beresford wichtig, dass das Publikum schon beim ersten Auftritt versteht, wer wer ist: »Wenn man ein so großes Panorama mit so vielen Protagonisten hat, dann ist es wichtig, dass man sie auf Anhieb wiedererkennt. Sonst gehen sie in der Masse unter.«
Neben Joe liegt das Augenmerk hauptsächlich auf Mark, gespielt von dem aufstrebenden Jungschauspieler Ben Schnetzer (Die Bücherdiebin). »Ben war keine naheliegende Wahl, denn die Figur ist Ire und er selbst Amerikaner«, gesteht Produzent David Livingstone. »Aber als wir seine Bewerbungsaufnahme sahen, waren wir uns alle einig, dass er den Kern des echten Mark Ashton absolut getroffen hatte. Auch viele der echten LGSM-Mitglieder fanden, dass er Mark enorm authentisch zum Leben erweckte.«
Auch Beresford war von der Wahl Schnetzers begeistert: »Es war nicht leicht, den geeigneten Darsteller für die Rolle des Mark zu finden. Zumal wir anfangs dachten, wir müssten einen irischen Schauspieler finden, um authentisch zu bleiben. Doch dann hat uns Bens Vorsprechen regelrecht umgehauen – und sein Akzent war ziemlich perfekt. Auch Faye Marsay, die Steph spielt, hat uns schnell überzeugt. Und auch George ist ein echtes Naturtalent.«
Über seine Rolle als Joe, der noch dabei ist, seine sexuelle Identität wirklich anzunehmen, berichtet MacKay: »Ich hatte mir vorher keine Gedanken darüber gemacht, was für eine große Sache es ist, wenn man schwul ist. Aber letztlich ist es immer eine große Sache, herauszufinden, wer man wirklich ist. Ganz egal welche sexuelle Orientierung man hat. Und in diesem Fall eben auch zu einer Sache zu stehen, die einem schaden kann und einen angreifbar macht. Wie viel dabei für Joe auf dem Spiel steht, musste ich mir erst einmal bewusst machen.«
Bill Nighy spielt den freundlichen Gemeindevorsteher Cliff und war hoch erfreut, an dem Film mitwirken zu können, nicht nur wegen der Qualität des Drehbuchs, sondern auch, weil es eine größtenteils vergessene, aber emotional nachwirkende Geschichte ins Rampenlicht rückt. »Mir war diese Geschichte gänzlich unbekannt«, gesteht der Schauspieler. »Aber natürlich war mir der Bergarbeiterstreik ein Begriff, und ich war dankbar, dass ein Film darüber mal wirklich wahrhaftig erzählen wollte. Bezüglich der Ereignisse herrschte ja eine gewisse, sagen wir mal, Verwirrung. Diese ganz konkrete Episode war mir aber vollkommen neu. Und sie hat mich einfach erstaunt und berührt.
Es war tatsächlich eines der besten Drehbücher, die ich in meinem Leben je gelesen habe. Ich wollte unbedingt in diesem Film mitspielen. Allein was den historischen Aspekt angeht, bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der wichtigste Film des Jahres ist. Als ich jung war, konnte man nur für eine öffentliche schwule Liebesbekundung noch für sieben Jahre ins Gefängnis gesteckt werden. Es musste nur jemand sagen, dass er dich gesehen habe. Eine einzige Lüge, und jeder hätte sie geglaubt.
Das spricht wirklich nicht für unsere Gesellschaft. Dass diese beiden Geschichten, also die des Streiks und die der Schwulenbewegung, ineinandergreifen, ist wirklich wunderbar. Damit kann man eigentlich nichts falsch machen. Schon allein, weil damals und auch in den Jahren danach diesbezüglich noch sehr viel falsch gemacht wurde. Deswegen war dies ohne Frage einer der besten Jobs, die ich je hatte.«
Imelda Staunton, eine von Englands besten Charakterdarstellerinnen, spielt Hefina, die energische Gemeindevorsteherin: »Die echte Hefina starb am ersten Tag unserer Dreharbeiten, und für mich fühlte es sich an, als habe sie mir ihren Segen gegeben. Ich habe meinen Teil getan, jetzt führst du das fort. Und wie sie ihren Teil getan hatte! Deswegen war ich auch nicht ewig traurig. Aber natürlich fühlt man eine große Verantwortung, wenn man reale Personen wie sie spielt.
Stephens Drehbuch ist wunderschön geschrieben, voller Lachen und Weinen. Es führte mich direkt zurück in jene frustrierende Zeit. Doch es nimmt sich der Thematik eben mit Humor, Herz, Präzision und Realismus an. Dem Film gelingt es, anhand wahrer Ereignisse und Personen sehr unterhaltsam aus einer Zeit zu erzählen, die für die meisten Menschen alles andere als unterhaltsam war. Auch mit Humor kann man sehr ernsthaft erzählen, und genau das ist uns gelungen.
Hier werden wirklich wichtige Themen verhandelt, doch als Zuschauer bekommt man das kaum mit. Das liebe ich daran so sehr. Man lacht und lacht und irgendwann merkt man, dass man sich kaum vorstellen kann, dass die Leute damals wirklich so gedacht haben. Der Humor zieht einen rein, und dann überrumpelt er einen. So muss es sein. Nicht zuletzt auf diese Weise wurde dieses Dorf in Wales für immer verändert. Und das Leben seiner Bewohner bereichert.«
Andrew Scott spielt Gethin, den Besitzer des Buchladens „Gay’s the Word“, der seit 16 Jahren keinen Fuß mehr nach Wales gesetzt oder mit seiner Mutter gesprochen hat. Er ist die einzige Figur im Film, dessen persönliche Geschichte beide Seiten der Geschichte berührt. Für Scott, der als Moriarty in der BBC-Serie Sherlock über Nacht berühmt wurde, war es der innere Konflikt der Figur, der ihn besonders ansprach:
»Gethins Hauptkonflikt ist die Tatsache, dass er politisch sehr aktiv, aber eigentlich mit sich nicht im Reinen ist, denn er hat nicht die Unterstützung seiner Familie. Das Drehbuch handelt davon, was die Schwulen und die Arbeiter gemeinsam haben – und was wir alle gemeinsam haben. Und meine Geschichte darin handelt eben auch von nationaler Identität und der Beziehung zur Familie.«
Die Rolle von Mike Jackson, dem Mitbegründer der LGSM, verkörpert Joseph Gilgun (Misfits, Lockout), der die Erfahrung sehr inspirierend fand: »Ich weiß, dass es sich platt anhört und die Leute es immer wieder sagen. Aber das Drehbuch ist wirklich eine Achterbahn der Gefühle. Man lacht und man weint. Es ist unglaublich schön geschrieben und ich bin sehr, sehr stolz, Teil dieser Geschichte zu sein.
Der echte Mike Jackson sagte zu mir, dass unsere Generation heute das Gefühl bekommt, dass Handeln zwecklos ist. Wir alle jammern einander nur die Ohren voll und reihen uns dann wieder in die Schlange ein. Das war damals anders, da haben sie sich aufgerafft und etwas getan! Das politische Klima war wirklich ein ganz anderes, und der Mann, den ich nun spiele, ist für mich ein Held. Es passiert nicht oft, dass man die Person trifft, die man vor der Kamera darstellt. Und diese wollte ich auf keinen Fall enttäuschen.«
Als Gethins Freund Jonathan, einem für seinen Stil und seine Exzentrik bekannten Schneider, ist Dominic West mit von der Partie. Genau wie für den Rest des Ensembles war es auch für ihn vor allem das Drehbuch, das ihn von dem Projekt überzeugte. Eine von Wests wichtigsten Szenen ist die, in der Jonathan im Gemeindezentrum der walisischen Bergarbeiter zum Disco-Hit „Shame, Shame, Shame“ von Shirley & Company tanzt.
»Ich bin ein guter Tänzer, aber sehr undiszipliniert«, lacht der Schauspieler. »Der Choreograf brauchte zwei Stunden, um den Tanz zu lernen. Ich dagegen mindestens 16! Als ich ihn dann endlich vor der Kamera aufs Parkett brachte, fühlte es sich an, als würde es 20 Minuten dauern, dabei waren es gerade einmal zwei. Das Ganze hätte ohne weiteres schrill und nervig rüberkommen können. Aber die Szene passt wirklich perfekt in den Film – und unterstreicht gleichzeitig seine Themen.«
Die Idee, dass nüchtern-zupackende Arbeiterklasse-Kumpel mit einer Gruppe flamboyanter, unverblümter schwuler und lesbischer Aktivisten Seite an Seite kämpfen, mag heutzutage nicht allzu weit hergeholt erscheinen. Aber 1984 kam das einer Revolution gleich. Denn man sollte nicht vergessen, wie groß die Kluft zwischen den Arbeitern auf dem Lande und der Homo-Community in der Großstadt damals war.
Pride ist nicht nur ein Film über den Arbeiterkampf, er skizziert auch (eher größtenteils) ein Bild der damals aufstrebenden schwul-lesbischen Bewegung mit all ihren Eigenheiten und Komplikationen, innerer und offener Schwulenfeindlichkeit und natürlich dem damals noch neuen AIDS. Da all die Figuren der Geschichte vorgestellt und bedient werden müssen, ist der Film mit 2 Stunden Laufzeit zwar ein wenig lang geworden, weiß jedoch (nicht zuletzt mit dem stimmigen Soundtrack) zu unterhalten, und den Zuschauer zum Mitdenken und -fühlen anzuregen. Das ist wieder britisches Kino vom Feinsten! ■ mz