Plötzlich Gigolo
© Concorde
Neben dem Bachelor Weekend, das ein etwas raues irisches Novemberwetter aufzeigt, kommt nun John Turturro mit einem perfekten Herbstfilm ins Kino, der all die wundervoll bunten Blätter der Bäume im Sonnenschein präsentiert. In seiner bereits fünften Regiearbeit vereinigt er sich ein weiteres Mal mit seinem Kollegen Woody Allen, mit dem er 1986 bei Hannah und ihre Schwestern erstmals zusammengearbeitet hatte. [Beide hatten zwischendurch lediglich einen Auftritt in der Ensemblekomödie Cuba libre - Dümmer als die CIA erlaubt (Company Man, 2000)]
Da beide New Yorker sind, liegt es auch nahe, dass Turturro und Allen den gleichen Friseur besuchen. Und Friseure gehören schließlich zu den Plaudertaschen schlechthin. So kam es, dass Woody Allen über seinen Friseur Wind von Turturros Geschichte bekam. Allen gefiel die Idee so gut, dass er sich bei Turturro meldete. Zu dem Zeitpunkt hatte Turturro nicht viel mehr als die grundlegende Geschichte. »Ich besuchte Woody zuhause und erzählte sie ihm«, sagt John Turturro. »Er sagte dann „das ist witzig“ oder „das ist nicht witzig“ oder „das könnte witzig sein“.«
Woody Allen erinnert sich: »Mir war klar, dass John da eine ungewöhnliche und amüsante Idee hatte. Es gab ein paar unterhaltsame Figuren, eine Prise Romantik und einige menschlich anrührende Momente.« Als Turturro begann, das Drehbuch zu schreiben, stand ihm Allen weiterhin mit Feedback zur Seite. »Er hat mir sehr großzügig seine Zeit geschenkt«, sagt Turturro, »aber er war auch gnadenlos. Doch ich wusste, wenn sich jemand wie Woody Allen dafür Zeit nimmt, muss etwas dran sein.«
Fioravante führt ein bescheidenes und wenig ambitioniertes Dasein in einem New Yorker Blumenladen. Ein sensibler und zurückgezogen lebender Mann mit einer alten Seele, der Dinge wie die Bücher in Murrays Laden oder alte Lebensweisheiten wertzuschätzen weiß. Er hat kaum Freunde neben Murray, der eine Art Vaterfigur für ihn geworden ist, seit Fioravante als kleiner Junge in seinen Buchladen eingebrochen war.
Fioravantes Leben scheint sich um die Frauen zu drehen, denen er begegnet, von denen er aber keine halten kann. Seine letzte Liebelei, eine sinnliche tunesische Sängerin namens Mimou, lebt in Italien und spricht kein Wort Englisch. Er kann nur auf Italienisch mit ihr kommunizieren, was er selbst nur vage versteht. Im Grunde seines Herzens ist er ein Romantiker, weswegen er sich bei Murrays Angebot auch so unwohl fühlt. Ihm gefällt die Vorstellung nicht, Sex und Geld zu verbinden.
Männliche Prostituierte, egal ob schwul oder hetero, werden im Film meist als außergewöhnlich attraktive Männer gezeigt. Der von Turturro dargestellte Fioravante war dagegen nie als hübscher Kerl geplant. »Im Kino sind es immer perfekt aussehende Typen, aber im realen Leben können Menschen auf ganz unterschiedliche Art sexy sein«, sagt Turturro.
Fioravantes Reiz entspringt nicht so sehr seinem Aussehen als seinem außergewöhnlichen Talent, Frauen zu verstehen, und seine Fähigkeit, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. »Es gibt Typen, die den Sex mögen, aber nicht unbedingt die Frauen«, sagt Turturro. »Fioravante ist bereit, ihnen zuzuhören, ihnen menschlich zu begegnen, zärtlich zu ihnen zu sein.«
Und auch wenn sich Fioravante als bescheidener Mann, der in einem Blumenladen arbeitet, seiner Fähigkeiten nicht bewusst ist, bleiben sie seinem engen Freund Murray nicht verborgen. Also vermittelt er zunächst seine Hautärztin Dr. Parker, die an einem Scheideweg in ihrem Leben steht und sexuell frustriert von einer Ménage-à-trois mit ihrer Freundin Selima fantasiert.
»Dr. Parker ist wie eine Blume, die noch nicht geblüht hat«, sagt Sharon Stone. »Sie ist wie eine Knospe, aber eine sehr verschlossene. Sie weiß, dass sie ein bisschen auf Sparflamme läuft, deswegen bittet sie Murray, ihr einen Typen zu verschaffen, weil sie jemanden braucht, der ihr hilft, ihr Herz zu öffnen. Und sie hofft, dass ihre gute Freundin Selima, die es versteht, sexy und temperamentvoll zu sein, ihr ebenfalls helfen kann.
Dieser Beginn ihrer blühenden Selbstoffenbarung ist so erstaunlich, dass noch ganz andere Gefühle zutage treten: Begehren, Eifersucht, Verwunderung, Hoffnung und dieses herrliche Gefühl von „Oh, ich weiß, wie ich sexy werden kann“. Es ist entzückend, weil sie 50 ist und nicht mehr 20. Und es ist so bewegend, zu sehen, dass wir uns in jedem Alter neu entdecken können.«
Dr. Parkers lebhafte Freundin Selima hat eine viel unbeschwertere Einstellung zu den außerehelichen Abenteuern mit Fioravante. »Selima ist unerschrocken«, sagt Sofía Vergara. »Sie ist bereit, in ihrem Leben ein paar Risiken einzugehen und sie will Spaß haben. Und obwohl sie verheiratet ist, wird sie nichts davon abhalten, glaube ich.« Turturro fügt hinzu: »Sie ist der freieste Charakter im Film. Ihr Glaube ist: Ich probiere dies aus, ich probiere das aus, und ich genieße das Leben, solange ich lebe.«
Selima hat mehr Selbstvertrauen als Dr. Parker, sie genießt ihren Seitensprung mit Fioravante und ist allgemein ganz gern ein bisschen skandalös. »Sie ist schon etwas durchgeknallt«, erzählt Vergara weiter. »Sie hat kein Problem damit zu schreien, zu heulen und zu sagen und tun, was sie will. Sie ist eine sehr witzige Figur, sie bringt Humor in den Film und ich glaube, deshalb wollte John mich für die Rolle.«
John Turturro hat für Plötzlich Gigolo einige hochgradig unterschiedliche Frauenfiguren geschaffen: »Ich wollte ganz verschiedene Frauen: klein, groß, schwarz, weiß, spanisch, Frauen, die ganz unterschiedliche Dinge heraufbeschwören. In einer früheren Fassung hatte ich auch noch viel ältere Frauen.
Bei meinen eigenen Filmen als Regisseur habe ich immer eng mit den Frauen zusammengearbeitet. Sie interessieren mich einfach mehr. Wenn ich fünf Filme hintereinander drehen könnte, würde ich nie einen reinen Männerfilm machen. Ich will so einen Film noch nicht mal sehen. Zu meinen Regie-Idolen gehören Ingmar Bergman, Jean Renoir, François Truffaut und Louis Malle, weil sie so plastische Frauenfiguren geschaffen haben.«
Avigal, eine weitere Klientin, die Murray für Fioravante findet, ist eine orthodoxe chassidische Witwe aus Williamsburg, Brooklyn. Avigal hat ihr gesamtes Leben in einer religiösen Gemeinschaft gelebt, die das Verhalten von Frauen streng einschränkt. Äußerlich müssen sie ihr Haar bedecken und lange Röcke tragen, ihre Körper müssen von vom Hals bis zu den Knien bedeckt sein.
Es ist ihnen verboten zu singen oder Bücher außerhalb des orthodoxen Kanons zu lesen. Der Kontakt zwischen Männern und Frauen ist so beschränkt, dass Avigal selbst nach 20 Jahren Ehe mit einem viel älteren Rabbiner und sechs Kindern, die sie ihm geschenkt hat, noch nie geküsst worden ist.
»Avigal ist religiös, aber sie hat auch eine neugierige Persönlichkeit«, beschreibt Vanessa Paradis ihre Rolle, die zugleich ihre erste englischsprachige ist. »Ihr ist es verboten zu lesen, aber sie tut es trotzdem. Sie ist einsam und leidet darunter. Sie will ein bisschen vom Leben kosten, etwas Abwechslung. In ihr gibt es etwas, das zum Leben erweckt werden will.« Daher ist es wenig überraschend, wie empfänglich sie für Murrays Angebot einer Massage ist. »Sie hat das Gefühl, völlig zu verschwinden. Und da taucht plötzlich Murray auf und zeigt, dass auch ein anderes Leben möglich ist. Sie vertraut ihm.«
Auch wenn das, was Fioravante Avigal bietet, bescheiden und keusch wirkt, ist sie in ihrem ganzen Leben noch nie einem Mann wie ihm begegnet. »Er schenkt ihr Aufmerksamkeit, interessiert sich wirklich für das, was sie in ihrem Kopf und ihrem Herzen umtreibt«, so Paradis. Diese Aufmerksamkeit gefällt Dovi überhaupt nicht, der ebenfalls auf der Suche nach Liebe ist und schon seit ihrer Kindheit in Avigal verliebt ist.
Dovi ist ein stämmiger Chassid, der als Mitglied der orthodoxen Gemeinschaftspolizei Shomrim in Avigals Nachbarschaft Dienst leistet. (Seine traditionellen Ringellocken vermischen sich perfekt mit dem gleichförmigen Kabel mit dem Knopf im Ohr!) Obwohl er sie kaum jemals angesprochen hat und die wenigen Versuche, die er unternommen hat, unbeholfen und peinlich waren, hat er 20 Jahre auf sie gewartet.
»Was ich an Dovi liebe, ist seine Loyalität und seine Geduld«, sagt Liev Schreiber. »Es war innerhalb der orthodoxen Gemeinde nicht angemessen, irgendeinen Kontakt mit ihr zu haben, aber er hat durchgehalten. Ich weiß nicht, ob Avigal klar war, dass er das tat, aber ich kann mir vorstellen, dass ihr aufgefallen ist, wie er sie benebelt angeschmachtet hat.«
Zwei Jahre nach dem Tod von Avigals Ehemanns sieht Dovi sie jetzt mit Murray und Fioravante und er verfolgt misstrauisch jeden ihrer Schritte. Angesichts seines religiösen Hintergrunds und seiner Schüchternheit ist Dovi verblüfft, mit welcher Leichtigkeit die beiden mit Avigal interagieren und ist besorgt, sie nach all den Jahren, die er auf sie gewartet hat, womöglich an jemanden zu verlieren, der so gar nicht in Dovis Kultur passt.
»Dovi ist sowohl körperlich als auch emotional ziemlich unbeholfen«, so Schreiber. »Ich glaube, er versucht Dinge zu begreifen, die ein bisschen außerhalb seines Erfahrungshorizonts sind.« Turturro ergänzt: »Fioravante versteht es, eine emotionale Nähe zu Avigal herzustellen, kann aber nicht bleiben. Und Dovi weiß nicht, wie er sich in ihrer Nähe verhalten soll, will aber unbedingt bleiben.«
John Turturro hat jahrelang in der jüdisch-orthodoxen Gemeinde recherchiert, Bücher gelesen und viele Menschen getroffen. Vanessa Paradis verbrachte lange Zeit mit einer jungen chassidischen Frau, die ihre Gemeinde verlassen hatte. »Sie ist eine sehr starke, junge, wunderschöne Frau, die damals 25 Jahre alt war, aber das Leben einer 105-Jährigen zu haben schien«, sagt Paradis.
»Sie half mir dabei, all die Regeln zu verstehen. Außerdem kam sie aus Israel und hatte erst vor drei Jahren Englisch gelernt. Sie hatte also einen kleinen Akzent, den ich dann ein bisschen verändert habe. John wollte nicht wirklich zeigen, wo sie herkam.«
Auch das Filmkostüm half Paradis, in die Rolle zu schlüpfen: »Mein Kopf ist unter der Perücke festgezurrt, und ich trage sehr enge Strümpfe. Mir gab das körperliche Gefühl, diese Kleidung zu tragen, eine Identität. Es hat mir wirklich sehr geholfen.«
Liev Schreiber bemerkt: »Ich glaube, oft haben die Leute eine zu enge Vorstellung von Gemeinschaften wie den Satmar oder den Chassidim. Sie können sehr zurückgezogen sein, und deshalb wollen andere sie nicht mit Fragen behelligen, und sie brauchen keine Antworten geben. Es ist eine sehr fruchtbare Situation für Missverständnisse und Kommunikationspannen. Wenn man aber in diese Gemeinden geht und ihnen auf Augenhöhe begegnet, erkennt man, dass da viel mehr dahintersteckt. Sie sind so komplex, kompliziert und verschieden wie jeder andere auch.«
Ein Charakterzug, der alle Hauptfiguren in Plötzlich Gigolo vereint, ist ihr Bedürfnis, eine Beziehung zu anderen Menschen aufzubauen. »Das ist ein großer Antrieb im Leben«, betont Turturro. »Ich glaube, manche haben ganz ausgeprägte Hemmschwellen und andere scheinen zwar alles zu haben, haben aber dennoch das Gefühl, etwas anderes zu brauchen.«
Vanessa Paradis fasst zusammen: »Es gibt einen Satz, den meine Figur im Film sagt: „Wir sind nur eine kleine Weile am Leben.“ Das heißt: Lebe das Leben, solange du kannst! Wenn es etwas Schönes gibt, eine Chance, die sich vor deinen Augen ergibt – schau nicht einfach nur hin, greif zu! Jeder verdient ein bisschen Glück, wenn nicht sogar eine ganze Menge.«
Und wir haben nun das Glück, diesen Film endlich zu Gesicht zu bekommen! Immerhin ist es ein Film mit Woody Allen, der selbst jedes Jahr einen Film heraus bringt. Diesmal war er lediglich als Schauspieler gefordert, stand dem Regisseur und Hauptdarsteller John Turturro jedoch beratend zu Seite. Klar: Allen sinniert erneut wie ein neurotischer Wasserfall, macht sich um alles Gedanken und plaudert diese auch aus. Das beschränkt sich jedoch zum Glück nur auf seine Rolle.
Zwischen seinem letztjährigen, Oscar®-prämierten Blue Jasmine (Cate Blanchett) und dem nächsten Monat in die Kinos kommenden Magic in the Moonlight mit Colin Firth und Emma Stone in den Hauptrollen, fand er die Zeit, den Pleite gegangenen Buchhändler Murray zu spielen, der, was eigentlich überhaupt nicht zur Geschichte passt, aber trotzdem mal was Anderes ist, mit einer Farbigen namens Othella und ihren Kindern zusammen lebt.
Und damit der Film Woody Allen nicht zu sehr ins Rampenlicht stellt, lässt das Geschwafel zum Glück auch nach etwa 30 Minuten nach, wenn es mehr um Fioravante und die Frauen geht (oder vielmehr Virgil, Fioravantes Gigolo-Ich). Für die Besetzung der Frauen konnte Turturro Erotikikonen verschiedener Epochen gewinnen: die durch ihren Beinumschlag in Basic Instinct zu Starruhm gekommene Sharon Stone (wird übrigens gekonnt von Murray angedeutet: „Ich weiß, sie ist eine Ärztin, aber in der Welt von heute könnte sie auch eine psychopathische Axtmörderin sein!“), die derzeitig durch die Serie Modern Family berühmt gewordene, gut ausgestattete Komik-Latina Sofía Vergara, sowie Johnny Depps Ex-Pop-Sternchen Vanessa Paradis, die Ende der 80er mit „Joe le Taxi“ einen Welthit landete und zuletzt in Der Auftragslover brillierte, und dessen wohl berühmteste Zahnlücke am Ende des Films auch zu Tage kommt. Übrigens spielt Paradis auch in Turturros nächster Regiearbeit wieder mit - in dem Episodenfilm Rio, eu te amo, und hat auch einen Song zum Soundtrack beigesteuert, der gegen Ende Avigal mit Dovi zusammenführt.
Die Musik im Film ist, ähnlich wie bei Woody Allens Filmen, jazzlastig, was hier aber auch treffend passt, wenn Leidenschaft auf Herbst trifft. Plötzlich Gigolo wartet mit zahlreichen Anspielungen auf Filmen auf, oft subtil, manchmal auch direkt. John Turturros Film ist weniger eine schenkelklopfende Komödie, eher eine reizende Anekdtote aus dem Leben des „Big Apple“ - ein wahrer Gutfühlfilm! (Die Bezeichnung Feel-Good-Movie gehört nicht nur eingedeutscht, sondern wirkt auch mittlerweile recht abgedroschen, da sie in letzter Zeit dermaßen oft auch für Filme benutzt wurde, die keine wirklichen Gutfühlfilme waren!)
John Turturro steuert auch schon auf die 60 zu, befindet sich jedoch, zumindest als Regisseur, in der Blüte seiner Karriere. Vermutlich wird er im übernächsten Expendables-Film auftreten - wär auch kein Wunder, denn er verbrät sein schauspielerisches Talent mit Filmen wie Transformers. Dennoch ist ihm mit Plötzlich Gigolo ein wunderbarer Film gelungen, der auch einen erweiterten Einblick in die jüdische Gemeinde New Yorks liefert. ■ mz