Kinostarts November 2015
Anne Gueguen ist Geschichtslehrerin an einem Gymnasium im Pariser Vorort Créteil, sozialer Brennpunkt Banlieu. Sie unterrichtet dort, wo ethnische und kulturelle Unterschiede bereits Konfliktpotenzial genug bieten, um eine entspannte Lernatmosphäre unmöglich zu machen. Madame Annes 11. Klasse ist der Schrecken der Schule, von der übrigen Lehrerschaft als hoffnungsloser Fall abgetan. Einzig ihre Klassenlehrerin hält den Glauben an sie aufrecht. Schließlich meldet diese ihre Elf bei einem nationalen Schülerwettbewerb an, ein Projekt zu „Deportation und Widerstand von Kindern und Jugendlichen im Dritten Reich“.
Doch nicht allein das Kollegium ist skeptisch ob dieses Vorhabens, die Schüler selbst äußern ihre Zweifel, die Angst vor der Blamage. Doch im Rahmen der Projektarbeit, inklusive Gedenkstättenbesuch und Zeitzeugengespräch, tritt an die Stelle von unbeholfen-coolen Sprüchen ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema, den Mitschülern und sich selbst. Das Schulprojekt wird zum persönlichen Anliegen, die Klasse zur Gemeinschaft und die Jugendlichen zu selbstbewussten jungen Erwachsenen. Unter solchen Voraussetzungen kann schließlich auch der Wettbewerb gewonnen werden - 1. Platz, Happy End.
Dass das Etikett „nach einer wahren Begebenheit“ nicht unbedingt Garant für glaubwürdige Plots sein muss, ist wohl das traurige Paradoxon derartiger Verfilmungen. So bleibt auch das französische Milieudrama Die Schüler der Madame Anne von ebendiesem Übel nicht verschont: Ideengeber und Co-Autor des Drehbuchs Ahmed Dramé gewann einst mit Mitschülern der Marke „Problemklasse“ dank der Förderung seiner Klassenlehrerin einen national ausgeschriebenen Schülerwettbewerb zur Holocaust-Aufarbeitung.
Doch auf der Leinwand erscheint die sukzessive Transformation der Problem- in eine Musterklasse unglaubwürdig: Die Figuren bleiben größtenteils stereotypisch, das Drehbuch wird stellenweise etwas zu tief in die Pathossoße getunkt und bei der Moral von der Geschicht' (Der Weg ist das Ziel!) wird ein wenig zu oft der didaktische Zeigefinger gehoben.
Dabei hat der Film neben seiner „true story“ noch weitere dokumentarische Bausteine vorzuweisen wie den eindrücklichen Auftritt des Holocaust-Zeitzeugen Léon Zyguel, welcher der Klasse von seinen traumatischen Erfahrungen berichtet. Zudem gibt Ahmed Dramé seine erlebte Geschichte nicht nur im Drehbuch wieder, auch für die Kamera spielt er (überzeugend) einen der Schüler - Malik. Neben Dramé und Zyguel wurden außerdem Jugendliche für den Film gecastet, die in Pariser Vororten aufgewachsen sind, mitunter in Créteil.
Dass es sich bei einigen von ihnen um Laiendarsteller handelt, ist wohl einer der Gründe, warum der Film trotz vorhersehbarer Entwicklung über manche Strecken Fahrt aufnehmen kann: Die beeindruckende Spielenergie der jungen Schauspieler (zu erwähnen seien hier noch Noémie Merlants und Adrien Hurdubae) wird zeitweilig von dynamischer Kamera und schnellem Schnitt ins Bild übersetzt. In jenen kompositorisch-abgestimmten Augenblicken gelingt Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar eine Art dokumentarischer Momentaufnahme. Spätestens nach der Hälfte des Films scheint sich dies jedoch erschöpft zu haben, werden bestimmte Szenenrezepte wie Lernkarteien so oft wiederholt, textlich wie bildlich, bis man sie auswendig weiß - und nach der Abfrage wieder vergessen kann.
Gemessen an französischen Produktionen mit ähnlichem Milieu-Sujet wie dem preisgekrönten Drama Die Klasse, das auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Hauptdarsteller François Bégaudeau beruht, demnach eine ebenso „wahre Begebenheit“ zur Grundlage hatte, wirkt der Film von Mention-Schaar blass, kitschig-pastellblass. Und doch bleibt Die Schüler der Madame Anne gewissermaßen gegen jeden (wahren) Vorwurf erhaben. Es verhält sich mit diesem Film ein wenig wie mit einem gut benoteten Aufsatz in der Schule: Alles richtig gemacht - trotzdem langweilig. ■ ih