Kinostarts Dezember 2015
Nach dem gemeinsamen Erfolg des Paares Noah Baumbach und Greta Gerwig mit ihrem Schwarzweiß-Porträt ►Frances Ha war es einfach nur logisch, dass die beiden wieder in Eigenregie ihren neuen Film schrieben und drehten. Ursprünglich war die Rolle der Brooke eine viel kleinere Figur aus eine ganz anderen Geschichte - eine Frau, die, so Gerwig, »eine Schmalspur-Abzockerin war, die immer mehrere Eisen im Feuer hatte.«
»Als wir beide am Drehbuch schrieben«, sagt Baumbach, »hat Greta mit Brookes Stimme gesprochen, und wir mussten beide lachen. Wir entschieden, dass sie einen eigenen Film verdient hat und schrieben ein Script, das sich zu Mistress America entwickelte. Wir begannen mit Brooke und entwickelten von dort aus die Story rückwärts. Ich habe null Ahnung, wer genau als Inspiration für Brooke diente. Doch als Greta anfing, wie sie zu sprechen, wusste ich, dass ich einen Film mit ihr in dieser Rolle sehen wollte.«
Sie entschieden sich, Brooke dem Publikum durch die Augen von Tracy nahe zu bringen - einer 18-jährigen College-Anfängerin, dessen Mutter im Begriff steht, Brookes Vater zu heiraten. Tracy, ein wohlbehütetes Mädchen aus der Vorstadt und frisch in New York angekommen, erwartet, dass jeder Tag genial und aufregend sein wird.
»Doch sie fühlt sich bald einsam und deprimiert«, sagt Gerwig. »Dann schlägt ihre Mutter ihr vor, Brooke zu treffen, und sie wird in ein verrücktes Abenteuer gezogen. Ich bin ein großer Fan jener 80er-Jahre-Filme, in denen tolle Mädchen den „Spießer“ in ein Underground-Milieu hineinlockten. Von einem Zufall zum nächsten erleben sie haarsträubende Abenteuer. Diese Stimmung wollte ich wieder erwecken. Ich liebe die Energie dieser Filme und hatte das Gefühl, so etwas schon lange nicht mehr gesehen zu haben.«
Brooke ist die Art junge Frau, in die sich jedes Mädchen, das in die Großstadt zieht, verwandelt – oder mit der es doch zumindest dick befreundet sein möchte. »Sie scheint eine Menge am Laufen zu haben«, sagt Greta Gerwig. »Sie ist Fitnesstrainerin, sie ist drauf und dran, ein Restaurant zu eröffnen, sie ist eine Inneneinrichterin, und sie hat Ideen für einen weiblichen Superhelden namens Mistress America. Sie mischt überall mit und kennt Hinz und Kunz – doch tatsächlich hat sie keinen echten Vertrauten.«
Die Begegnung mit Brooke gibt Tracy das Gefühl, dass ihr Leben endlich losgeht. »Es ist ein bisschen wie die Begegnung von Nick Carraway mit Gatsby«, erklärt Gerwig. »Tracy wird zur Chronistin des Films. Sie will Schriftstellerin werden, und als sie diesen überlebensgroßen Frauencharakter trifft, beginnt sie heimlich damit, Brookes Leben in einer Kurzgeschichte mit dem Titel „Mistress America“ aufzuzeichnen.«
Als ihre Fassade eines „It-Girls“ zu bröckeln beginnt, wird Brooke schmerzlich bewusst, dass der erwartete Erfolg bisher ausgeblieben ist. »Aber sie ist hinreißend, wenn man sie zum ersten Mal trifft«, sagt Gerwig. »Von außen gesehen wirkt ihr Leben faszinierend. In Tracys Alter verfällt man leicht ins Idealisieren. Wenn man näher kommt, merkt man, dass die Dinge komplizierter sind. Die Leute machen aus den Ereignissen ihres Lebens oft eine ganz große Geschichte. Aber je mehr Fragen man stellt, desto mehr erkennt man, dass diese Erzählungen so nicht stimmen können. Das ist es auch, was Tracy im Falle von Brooke vermutet.«
Gerwigs und Baumbachs besonderes Interesse galt den Dialogen. »Im Allgemeinen liebe ich einen minimalistischen, präzisen und schnörkellosen Stil«, sagt Greta Gerwig. »Doch diesmal wollte ich, dass fast zu viele Worte gemacht werden, dass die Dialoge schnell sind und nur so aus den Figuren heraussprudeln. Der Film ist nur 84 Minuten lang, doch er hat ein dickes Drehbuch, das angefüllt ist mit Wortwechseln und Einfällen und mit Leuten, die kürzester Zeit unheimlich viel reden. Es scheint, als ob Brookes Lust am Reden und Quasseln die anderen Charaktere anfeuert. Es machte großen Spaß mitzuerleben, wie die anderen Darsteller sich in ihre Rollen hineinredeten.«
Und das ist auch das Auffälligste an diesem Film. Greta Gerwig alias Brooke labert fast ununterbrochen und reagiert auf Dialog fast im Bruchteil einer Sekunde, als wenn sie gar nicht erst darüber nachdenkt, was sie sagt. Brooke ist wie New York - schnell, bunt und laut. Doch was mich am meisten in dem Film stört, ist Gerwigs Darstellung dieser Figur. Ihr Gesicht ist meist ausdruckslos, so als müsse Brooke mit ihrem Gequassel dieses Manko ausgleichen. So entsteht auch nicht die geringste Empathie für diese Figur. Alles steht und fällt mit Lola Kirke alias Tracy.
»Lola ist überhaupt nicht wie Tracy«, bewundert Gerwig die noch recht unbekannte Schauspielerin, die im vorigen Jahr [übrigens erst nach dieser Rolle hier] in dem Krimi ►Gone Girl – Das perfekte Oper ihren Durchbruch feierte. »Sie ist total selbstbewusst und wirkt, als hätte sie noch nie in ihrem Leben vor irgendjemand Angst gehabt. Aber es war bald klar, dass sie eine hervorragende Schauspielerin ist und wirklich den Kern der Rolle erfassen würde.«
»Tracy«, so Lola Kirke, »lernt sich selbst zu schätzen, weil jemand, den sie respektiert, an sie glaubt. Sie ist von Brooke sehr eingenommen, und dieses Gefühl konnte ich sehr gut nachvollziehen. Auch ich will mich von markanten und willensstarken Frauen führen lassen – Frauen, die mutig genug sind, jene Dinge zu tun, von denen ich glaube, dass ich sie nicht tun kann. Tatsächlich ist die Beziehung zwischen Greta und mir ein wenig ein Abbild der Beziehung zwischen Brooke und Tracy. Sie ist eine so eindrucksvolle und talentierte Frau, und es war wirklich ein Erlebnis, von ihr unter die Fittiche genommen zu werden.«
Brookes Kampagne zur Rettung ihres Restaurants gipfelt in einem gemeinsamen Trip nach Greenwich in Connecticut, wo ein wohlhabendes Paar lebt, das, so meint Brooke, ihr etwas schuldet. Tracys Literatenfreund und -Kritiker Tony, der ein Auto organisiert hat, wird dazu vergattert, sie hinzufahren – und dessen Freundin Nicolette, getrieben von ihrer Eifersucht, steigt mit ein. »Es ist offensichtlich, dass Tracy auf Tony steht«, sagt Jasmine Cephas-Jones. »Nicolette hat Angst, dass Tony sie betrügt. Sie ist eine Außenstehende und will dazu gehören. Der einzige Weg dazu ist ihr Freund, und deshalb prahlt und nervt sie herum, bis sie kriegt, was sie will.«
Besagtes Upper-Class-Pärchen, Brookes alte Freunde Mamie-Claire und Dylan, werden von Heather Lind und Michael Chernus verkörpert. Gerwig erinnert sich an die Begegnung mit Chernus, als sie auf dem College Drehbuchseminare besuchte. »Der Lehrer lud einige New Yorker Schauspieler dazu ein, ein Stück zu lesen, das ich geschrieben hatte«, erzählt sie. »Ein von ihnen war Michael Chernus, und ich hatte immer eine besondere Zuneigung zu ihm.«
Noah Baumbach wollte Chernus schon seit längerem für einen seiner Filme engagieren. »Er war einfach perfekt für die Dylan-Rolle«, sagt der Regisseur und Mitautor. »Ich habe dabei an Jack Warden in Shampoo [1975] gedacht. Man mag ihn irgendwie, egal wie sehr er sich daneben benimmt. So einen habe ich für die Dylan-Rolle gebraucht.«
Heather Lind spielt Mamie-Claire, eine überspannte Vorort-Zicke, die einen großartigen Kontrast zu Brooke abgab. »Wenn man Mamie-Claire zum ersten Mal trifft, glaubt man, diesen Typus genau zu durchschauen, doch als sich die Dinge entwickeln, merkt man, dass sie man sie überhaupt nicht kennt«, sagt Baumbach. »Das hat Heather verstanden und brillant dargestellt.«
Und auch genau dieses Ensemble ist es schließlich, das den Film zu besagter Screwball-Komödie auflaufen lässt - jede Menge Figuren in einem Haus: Mamie-Claires Buchclub der schwangeren Vorstadt-Hausfrauen im Wohnzimmer und Brookes Gang in der Küche - das Hin- und Herjongliere der Gastgeberin und schließlich Brookes Präsentation ihrer Geschäftsidee retten den Film vor dem endlos belanglosen Geschwafel, wodurch die Dialoge wie auch die Schauspielenden zu Höchstform auflaufen.
Als Kulisse für diesen Handlungshöhepunkt entdeckten die Filmemacher ein riesiges Haus mit gläsernen Wänden, einem 360-Grad-Rundumblick und mit einer Menge Schiebetüren. »In einer Farce gibt es normalerweise viel Türenknallen, doch wir fanden es lustiger, stattdessen gleitende Türen zu nehmen«, so Gerwig, »Türen, die man eben nicht zuknallen kann.«
»Der Dreh dieser turbulenten Szenen war für das Team eine tolle Erfahrung«, sagt Jasmine Cephas-Jones. »Wir gingen ständig zwischen den Zimmern rein und raus, es gab exakte Markierungen und die Logistik war eine ziemliche Herausforderung - doch es machte auch viel Spaß.« Der Teamgeist, der beim Dreh herrschte, ist, so Lola Kirke, nirgends offensichtlicher als in diesen Szenen: »Es war eine ziemlich komplizierte Choreographie, und ihre Verwirklichung hat Spaß gemacht. Jemand geht raus und dann kommt jemand herein und ein anderer bewegt einen Tisch.«
Angesichts von neun Darstellern in einer Szene bedurfte es einer minutiösen Planung. Die Darsteller mussten sehr schnell sprechen, sich ins Wort fallen, um stets auf der Höhe des knackigen Dialogs zu sein – und zugleich exakt die choreografischen Anweisungen beachten. »Es geht ja nicht nur um die vier New Yorker«, erklärt Gerwig. »Da sind auch Mamie-Claire und Dylan, einer ihrer Nachbarn, die Haushälterin, und eine Frau von Mamie-Claires Buchgruppe - und alle wandern in diesem riesigen Haus umher.
Es sieht natürlich aus, doch es bedurfte einer Menge Planung, um es exakt hinzubekommen. Wir versuchten, beim Drehen zu sparen, und wollten in jeder Einstellung so viele Leute wie möglich versammeln. Da gab es etwa jene lange „Walk-and-Talk“-Szene, in der Brooke Mamie-Claire folgt, und die sich als wahrer Hindernislauf entpuppte. Wir mussten zahlreiche Markierungen setzen und andere Darsteller im exakt richtigen Moment auftauchen lassen.«
Für die Musik wandte sich Baumbach erneut an seine langjährigen Mitarbeiter Dean Wareham und Britta Philips, die er damit beauftragte, einen Score zu komponieren, der an die achtziger Jahre in New York erinnern sollte. Das Ehepaar, das seine berufliche Zusammenarbeit als Mitglieder der Independent-Kultband Luna begann, hat nicht nur die Musik für Der Tintenfisch und der Wal, Frances Ha und Greenberg komponiert, sondern ist zudem in etlichen Baumbach-Filmen mit aufgetreten.
»Wir fanden, dass dies eine Gelegenheit war, etwas zu komponieren, das an New Order und OMD erinnert«, sagt Noah Baumbach. »Dean und Britta haben ihren ganz eigenen Stil, und ich wusste genau, dass sie meinem Auftrag, etwas in dieser Richtung zu machen, ihren Stempel aufdrücken würden. Tatsächlich ist das Ergebnis eine meiner liebsten Filmmusiken. Sie hat eine treibende Energie, sie hat Romantik, Schönheit und auch Humor. Es ist ein toller Sound für New York City.«
Und tatsächlich besitzt die Filmmusik neben Stücken von OMD, Paul McCartney und Hot Chocolate ein wenig 80er-Jahre-Flair. Dabei wirkt sie allerdings genauso blass wie das Geschwafel von Brooke. Insgesamt ist Mistress America eine nette Großstadtanekdote, die sich klar an Woody Allen orientiert - vor allem durch die zunehmende Häufigkeit Baumbachs Filme, während sich die zweite Hälfte in Greenwich eher an die Screwball-Klassiker der 40er und 50er Jahre erinnert, mit einem Hauch von Blake Edwards. Doch Greta Gerwig agiert stets ein wenig ausdruckslos wie Geena Davis, wodurch es dann am Drehbuch und ihren Zuspielerinnen liegt, wie gut sie rüberkommt. ■ mz