Kinostarts Dezember 2015
Es ist Vorweihnachtszeit. Die schüchterne Therese verkauft Spielzeug in einem Kaufhaus. Beim Umherschauen nach Kunden erhascht sie kurzzeitig das Antlitz einer bezaubernden älteren Frau. Dann ist sie wieder verschwunden. Kurze Zeit später steht sie vor ihr. Sie sucht nach einem Geschenk für ihre Tochter. Der knallrote Lippenstift zeichnet Carols sinnliche Lippen und bildet einen Kontrast zum bleichen Gesicht. Thereses große Püppchenkulleraugen versuchen verlegen, nicht an Carol hängenzubleiben.
So beginnt die ungewöhnliche Liebesgeschichte zweier Frauen, die Todd Haynes nach einem Roman von Patricia Highsmith inszenierte. »Carol handelt von der alles andere als typischen Affäre zwischen zwei Frauen, die unterschiedlich alt sind und aus unterschiedlichen Milieus stammen«, erklärt der Regisseur.
»Therese, eine junge Frau in ihren frühen Zwanzigern, beginnt einen neuen Lebensabschnitt, als sie Carol Aird begegnet, einer faszinierenden älteren Frau, die eine Tochter hat und sich gerade von ihrem Mann scheiden lässt. Je mehr sich die beiden ineinander verlieben und sich aufeinander einlassen, desto mehr fangen sie an, sich den Konflikten zu stellen, die ihre Gefühle in ihrem Umfeld provozieren.«
Vor allem das vollkommen Unerwartete dieser Liebe interessierte Haynes. Schließlich ringen sowohl Therese als auch Carol damit, die Zeichen und Signale richtig zu deuten, die mit ihren Gefühlen einhergehen. Carol wird bewusst, wie unerfüllt sie sich in ihrer Ehe mit dem wohlhabenden Investmentbanker Harge fühlt. Parallel dazu verspürt auch Therese eine ähnliche Verwirrung, was ihren hingebungsvollen Freund Richard angeht. Der Paradigmenwechsel, der in diesen beiden, den gesellschaftlichen Erwartungen angepassten Beziehungen ansteht, macht das Zentrum des Films aus.
Haynes zeichnet mit Carol das wunderschöne Bild einer letztlich radikalen Zeit in unserer jüngeren Geschichte, in der sich die Offenheit der Gesellschaft gegenüber homosexuellen Gefühlen und Leidenschaften langsam zu ver- ändern begann. Der Film vermittelt dabei seinem Publikum einen realistischen Einblick in die Herausforderungen und Schwierigkeiten einer Liebe in den 50er Jahren, für die es weder Vorbilder geschweige denn einen Namen gab.
Zurückhaltend wie das Privatleben der Gesellschaft jener Epoche inszenierte Haynes auch die Liebesbeziehung, in der die Intimität ohne die Schwere von etwaigen Sexszenen aufgezeigt wird. Mit wunderschön ausgestatteten Bildern wirkt der Film wie ein Traum, aus dem man dann nach 2 Stunden im Kinosessel erwacht. Er besitzt viele lange Einstellungen der beiden Frauen, an denen man sich nicht sattsehen kann. Und doch ist der Film nicht langweilig. Dafür sorgt die Drehbuchadaption der Emmy®-nominierten Drehbuchautorin Phyllis Nagy.
Allerdings geschieht im Film nicht wirklich viel, erst recht nichts Unerwartetes. Wenn die beiden Frauen aus ihrem Leben ausbrechen, erinnert das ein wenig an Thelma & Louise, doch der einzige Konflikt, der daraus entsteht, sind die kompromittierenden Fotos, die ein Privatdetektiv macht, was die beiden zur Rückkehr zwingt. Es ist ein ewiges Hin und Her zwischen ihrer Liebesbeziehung und der Außenwelt, die von den Männern in ihrer beider Leben abgesteckt wird - souverän gespielt von Kyle Chandler und Jake Lacy, der derzeit auch in ►Alle Jahre wieder - Weihnachten mit den Coopers zu sehen ist und dort mehr Glück bei den Frauen hat.
„Salz und sein Preis“ war nach ihrem nicht zuletzt durch Hitchcocks erfolgreiche Verfilmung populären Debüt „Zwei Fremde im Zug“ Patricia Highsmiths zweiter Roman. Ihr Verleger lehnte eine Veröffentlichung ab (offiziell, weil es sich nicht um einen klassischen Krimi handelte), so dass das Buch letztlich bei einem kleinen Verlag erschien. Aus Sorge um die Auswirkungen, die eine lesbische Geschichte auf ihre gerade erst begonnene Karriere haben würde, veröffentlichte die damals 30-jährige Autorin den Roman unter dem Pseudonym Claire Morgan. Es entwickelte sich nach Erscheinen der Taschenbuchausgabe zu einem mehr als beachtlichen Erfolg. Über die Jahre verkauften sich über eine Millionen Exemplare. Erst 1984 bekannte sich Highsmith öffentlich dazu, die Verfasserin des Romans zu sein.
Dass der Film mit 5 Golden-Globe®-Nominierungen aufwartet, liegt gewiss nicht an der Geschichte. Todd Haynes hatte einfach Glück, auf seinen vertrauten Kameramann Edward Lachman und seine Hauptdarstellerinnen bauen zu können, besonders Cate Blanchett, mit der er bereits bei I'm not there zusammengearbeitet hatte. Ohne sie wär der Film nicht der geworden, der er ist - ein Kunstwerk, das man gern betrachtet. Und je länger man hinsieht, erkennt man auch die Feinheiten. Das ist großes, wenn auch unspektakuläres Kino. ■ mz