Multiplex
We want Sex
Kinostart: 13.1.2011 | Autor: mz

Nach seinem Kinohit Kalender Girls setzt Nigel Cole wieder auf typisch britischen Humor und jede Menge Charme: Golden-Globe-Gewinnerin Sally Hawkins führt in der Rolle der couragierten Rita eine illustre Darstellerinnenriege an, die so unwiderstehlich agiert, dass die wahre Geschichte der Arbeiterinnen von Dagenham in ihrer historischen Bedeutung beeindruckend in Szene gesetzt wird.

Dass der deutsche Filmtitel mal wieder so richtig aus der Tonne gezogen wurde, stört nur minimal, es sei denn, man erwartet das, was der Titel verspricht. Made in Dagenham, so der Originaltitel, ist demzufolge kein anrüchiger Schweinkramfilm, sondern ein Film über die Gleichberechtigung der britischen Frau Ende der Sechziger Jahre.

Die einzige Stelle, in der „We want Sex“ vorkommt, ist ein unausgerolltes Plakat, auf dem weiter steht: „...equal Pay!“ Das ist nur eine ganz kurze Szene, die man aufmerksam suchen muss, und wenn man sie sieht, fragt man sich ebenso: Was soll dieser Titel?! Aber Filme werden nicht durch den Titel bewertet, sondern auf den Inhalt kommt es an. In der Schule wäre das eine Eins, jedoch Thema verfehlt - eine Fünf (oder Sechs oder was auch immer)!

Die englische Autostadt Dagenham, 1968. Als außergewöhnlich würde Rita O’Grady sich selbst kaum beschreiben. Sie hat genug damit zu tun, Job und Familie unter einen Hut zu bringen. In der Ford-Fabrik ist sie eine von 187 Frauen, die unter einfachsten Bedingungen Autositze zusammennähen – ein anspruchsvoller Knochenjob, den sie klaglos und mit viel Humor erledigt.

Als das Management jedoch beschließt, Rita und ihre Kolleginnen als ungelernte Arbeitskräfte einzustufen, ist Schluss mit lustig. Rita tritt gemeinsam mit Gewerkschaftsvertreter Albert den Chefs gegenüber und erweist sich dabei als überraschend clevere Verhandlungspartnerin.

Zunächst belächelt und selbst vom eigenen Gatten unterschätzt, mausert sie sich zu einer echten Powerfrau und führt die Näherinnen in den ersten Frauenstreik der britischen Geschichte. Was wie eine lokale Petitesse beginnt, entwickelt sich zu einer nationalen Angelegenheit, in die selbst Barbara Castle, die „feurige Rote“ im britischen Kabinett, nur zu gerne eingreift.

In den Filmen von Nigel Cole geht es fast immer um ziemlich unwahrscheinliche Heldinnen: um bescheidene, unscheinbare Frauen, die auf den ersten Blick kaum etwas Außergewöhnliches an sich haben. Doch plötzlich sehen sie sich mit ungeahnten Herausforderungen konfrontiert, müssen Ängste und Unsicherheiten überwinden, neue Rollen annehmen und über sich hinauswachsen. So entdecken sie die Powerfrau in sich.

Einerseits schüchtern und unsicher, andererseits mit gesundem Menschenverstand und ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn ausgestattet, avanciert Rita allmählich zur klassischen „Cole-Heldin“: Sie demonstriert ungeahnte Fähigkeiten und Talente, erfindet sich neu und bleibt dabei doch mit beiden Beinen auf dem Boden, bewahrt sich ihre unprätentiöse Natürlichkeit.

Wie alle Cole-Filme passt auch We want Sex in kein Genre, sondern bietet eine kunstvoll austarierte Mischung aus leicht und schwer, hell und dunkel, ernst und zum Schreien komisch. Es geht um die Dynamik im Frauenteam, zu dem neben Rita noch die mütterliche Connie, die frivole Brenda und die niedliche Sandra zählen, um Konkurrenz, Solidarität und die herrlich frechen Sprüche, die im Minutentakt vom Stapel gelassen werden (deren Ziel nicht selten der von Bob Hoskins hinreißend kauzig gespielte Gewerkschaftsobmann Albert ist).

Es geht um unwahrscheinliche Allianzen, wenn Rita und Lisa, die Ehefrau des Fordchefs Peter Hopkins, überraschend an einem Strang ziehen. Und am Rande geht es auch um das Verhältnis der Geschlechter: Wenn das Land neue Frauen bekommt, dann braucht es auch neue Männer.

Der Film basiert weitgehend auf Tatsachen, schildert sehr authentisch das Lebensgefühl in Dagenham, jenem Londoner Vorort, der seinerzeit von Ford geprägt wurde wie Wolfsburg vom VW-Konzern: eine Stadt, in der sich alles um die Autoproduktion dreht und wo jeder irgendwie mit der Fabrik in Verbindung steht. Es ist die Ära der Swinging Sixties, mit schriller Mode, fröhlichem Pop und wachsender Liberalität.

Aber auch die alten Zeiten sind noch spürbar, die traumatischen Nachwirkungen des 2. Weltkriegs etwa oder die Überbleibsel des Frühkapitalismus, unter denen Rita & Co. zu leiden haben. Sie schuften tagtäglich in einer windschiefen Fabrikhalle aus grauer Vorzeit, wo der Regen durchs undichte Dach tropft und es an heißen Tagen nur in Unterwäsche auszuhalten ist. An diesem Arbeitsplatz sind die Swinging Sixties definitiv noch nicht angekommen.

Sally Hawkins (Happy-Go-Lucky) besticht in ihrer Rolle der Rita durch ihre hervorragende Darstellung dieser Frau, ist aber keineswegs allein dabei. Ebenso hervorragend spielen, neben Bob Hoskins und Miranda Richardson, auch ihr Filmehemann Daniel Mays (Ashes to Ashes), Geraldine James (Kalender Girls), Andrea Riseborough (Happy-Go-Lucky) und Jaime Winstone (Daddy's Girl, Tochter von Schauspieler Ray Winstone). Das ist das britische Kino, das wir lieben und schätzen wissen, auch wenn man den Titel verhunzt. ■


OT: Made in Dagenham
GB 2010
Komödie/Drama
FSK: Freigegeben ab 6 Jahren
105 min


mit
Sally Hawkins (Rita O'Grady) Luise Helm
Daniel Mays (Eddie O'Grady) Stefan Krause
Geraldine James (Connie) Kerstin Sanders-Dornseif
Andrea Riseborough (Brenda) Maria Koschny
Jaime Winstone (Sandra) Tanya Kahana
Nicola Duffett (Eileen) Katarina Tomaschewski
Bob Hoskins (Albert Passingham) Klaus Sonnenschein
Miranda Richardson (Barbara Castle) Rita Engelmann
Rosamund Pike (Lisa Hopkins) Ranja Bonalana
Rupert Graves (Peter Hopkins)
Lorraine Stanley (Monica)
Matthew Aubrey (Brian)
Andrew Lincoln (Mr. Clarke)
Kenneth Cranham (Monty Taylor)
Richard Schiff (Robert Tooley)
Roger Lloyd-Pack (George)
John Sessions (Harold Wilson)

musik
David Arnold

kamera
John de Borman

drehbuch
William Ivory

regie
Nigel Cole

produktion
Audley Films
BBC Films
BMS Finance
HanWay Films
Lipsync Productions
Number 9 Films
UK Film Council

verleih
Tobis