Kinostarts September 2015
In Großmutters Haus gibt es nur drei Regeln:
1) Iss so viel Du willst!
2) Hab eine tolle Zeit!
3) Verlasse nach 21:30 Uhr niemals dein Zimmer!
Weniger ist mehr. Diesen Leitsatz schien sich M. Night Shyamalan bei dieser Produktion zu Herzen genommen zu haben. Nach seinen letzten Mega-Flops After Earth und Die Legende von Aang startet der Mystery-Fan neu durch: Neben der derzeit durchgelaufenen 1. Staffel von Wayward Pines drehte der gebürtige Inder nun dieses kleine Filmchen und kehrte damit zu seinen Wurzeln zurück. Von ihm stammt, wie so oft, das Drehbuch, er finanzierte den Film aus eigenen Mitteln und drehte jenseits von Hollywood einen außergewöhnlichen Gruselfilm.
Nun ja, Gruselfilm ist er nur zum Teil. Der Film beginnt als normales Familiendrama: Mutti geht auf Kreuzfahrt und lässt ihre Kinder derweil deren Großeltern besuchen, die nach einem Zwist vor langer Zeit die Verbindung mit der Tochter wiederherstellen wollen. Diese hält sich bedeckt, was den Grund für diesen Zweck betrifft, und ist skeptisch, dass etwas Vernünftiges dabei herauskommen könnte.
Wild entschlossen, sie kennenzulernen, fahren die Kinder mit der Bahn und werden von den Großeltern am Bahnhof abgeholt, was so simpel und klischeehaft Werbespots über Süßigkeiten ins Gedächtnis ruft. Und natürlich filmt die junge angehende Dokumentarfilmerin Becca alles mit einer Handkamera, was zwangsläufig an sogenannte „Found-Footage-Filme“ erinnert. Doch Shyamalan lässt die Kamera nicht allzu sehr wackeln und oftmals auch irgendwo abstellen. Das beruhigt nicht nur die Augen, sondern lässt diverse Szenen auch recht gruselig wirken.
Nach und nach entdecken die Kinder, dass irgendetwas mit den alten Leuten nicht stimmt. Der Opa erklärt das merkwürdige Verhalten der Oma mit dem Begriff „Sundowning“, was auch der ursprüngliche Titel des Films war. Dieses Phänomen gibt es auch wirklich: Patienten mit einer Art von Alzheimer-Krankheit oder allgemeiner Demenz reagieren durch den Verlust von Sonnenlicht mit erhöhter Verwirrung und Unruhe. Somit ändert sich auch die Stilrichtung des Films und driftet in Richtung absurde Komödie, um dann gekonnt mit einer ordentlichen Portion Wahnsinn abzuschließen.
M. Night Shyamalan wollte schon seit Jahren einen Film ohne Filmmusik machen und dachte, dass dieser Film dafür am besten geeignet wäre. Da alles, was der Zuschauer sieht, das ist, was Becca und Tyler gerade aufnehmen, hätte es keinen Sinn gemacht, für diesen Thriller eine Filmmusik komponieren zu lassen. »Ich hatte das Gefühl, dass die Intensität, die ich hier rüberbringen wollte, nicht mit einer Filmmusik hätte erreicht werden können«, meint der Regisseur. »Die Toneffekte dienen uns als Filmmusik, und sie sind es, die den Zuschauer langsam aus der Fassung bringen.«
Eine andere Fassung, aus der man gebracht wird, ist natürlich mal wieder die Synchronisation. Der junge Tyler rappt nämlich ganz gern, was ihm so einfällt, und wird in dem Moment zum Rapper „T-Diamond“. Da der ganze Rap synchronisiert wurde, bekommt man schon ein wenig Ohrengekröse. Auch wenn man sich bei der Textübersetzung Mühe gegeben haben mag, kommt die Stimmung von Ed Oxenboulds Einlagen nicht so recht herüber.
Den australischen Jungschauspieler Ed Oxenbould kennt man eventuell aus der Familienkomödie ►Die Coopers - Schlimmer geht immer, worin er einem internationalen Publikum bekannt gemacht wurde. Er begrüßt es sehr, dass seine Rolle eben kein Junge ist, der für lachende Erleichterung und billigen Schrecken herhalten muss, sondern Substanz hat. Er ist von den beiden Geschwistern der Jüngere und muss mit schweren zwangsneurotischen Tendenzen klarkommen, die ihn, seit der Vater die Familie verließ, zunehmend lähmen. »Tyler ist ein liebes und sensibles Kind«, erklärt Oxenbould. »Seit der Vater weg ist, hat er etliche Probleme. Er tut nur so, als wäre er ganz hart und kommt erst aus sich heraus, wenn er in die Rolle des „T-Diamond“ schlüpft.«
Filmschwester Olivia DeJonge ist bislang hauptsächlich in der australischen Heimat bekannt und war dort zuletzt in der TV-Serie Hiding zu sehen gewesen. Einer der Gründe, warum Shyamalan ausgerechnet sie für die Rolle wollte, war die tiefe Liebe fürs Kino, die DeJonge mit ihrer Figur teilt. »Sowohl Becca als auch ich interessieren uns für Filme und wie sie gemacht werden«, sagt sie. »Ich drehe auch selbst gern Kurzfilme, vor allem in der Schule. Außerdem ist Becca eine äußerst komplexe und reale Figur, was sehr selten ist. Sie hat Werte und Moralvorstellungen, die ich sogar teilen kann.«
Das Zusammenspiel der beiden führt in The Visit zu einer der stärksten Szenen, als Tyler die Situation umdreht und anfängt, Becca vor der Kamera zu interviewen. DeJonge erinnert sich an diesen überwältigenden Tag: »Emotional gesehen war es die härteste Szene, wenn Becca mit Tyler draußen ist und das letzte Interview für ihre Dokumentation drehen will. Tyler bringt sie dazu, etwas zu erzählen, dass sie noch nie zuvor jemandem anvertraut hat. Das ist sehr emotional. Es war eine der schwierigsten Szenen für mich, aber ich denke, sie ist gelungen.«
Je stärker Becca und Tyler zusammenwachsen, desto mehr zeigt sich auch das Grauen der Geschichte. Beide müssen mit dem zunehmend seltsamen Verhalten ihrer Großeltern klarkommen - brillant gespielt von Tony®-Gewinnerin Deanna Dunagan und dem schottischen Charakterdarsteller Peter McRobbie. Ed Oxenbould war von dem erfahrenen Schauspieler so beeindruckt, dass er sich einiges für seine eigene Schauspielerei abguckte und bestimmt noch für Jahre anwenden wird. »Deanna und Peter sind in jeder ihrer Szenen großartig«, schwärmt er. »Ihre Rollen sind sehr gruselig.«
Eine Rolle zu spielen, die zwischen großer Zärtlichkeit und Zügen massiver Psychosen hin und herschwankt, war für Deanna Dunagan zugegebenermaßen recht anregend. Die Herausforderung, Nana in verschiedenen Takes auf unterschiedliche Art und Weise zu porträtieren, nahm sie gern an. »Interessant ist, dass Night, obwohl er den Film geschrieben hat, die Figur erst mit mir zusammen im Laufe der Geschichte so richtig kennenlernt. Wir drehten jede Szene mehrmals, um mit Nanas unterschiedlichen Charakterzügen experimentieren zu können. Das gab Night die Möglichkeit, beim finalen Schnitt zu wählen«, erinnert sie sich.
Daher kommt es auch, dass Shyamalan drei verschiedene Filme zusammenschnitt - eine reine Komödie, einen Horrorfilm und letztlich die gemischte finale Version. Keinem der Mitwirkenden blieb es verborgen, dass ihr Regisseur im Grunde seines Herzens ein Kind geblieben ist - was er auch offen zugibt. Shyamalan mag die Gruselszenen seiner Filme genauso, wenn nicht sogar mehr wie jede andere.
»Eigentlich kann man Nights Lachen überall ausfindig machen. Wenn du es hörst, weißt du, dass du deine Sache gut gemacht hast«, so Olivia DeJonge. »In einer Szene wird Tyler wieder zu T-Diamond«, erinnert sich Ed Oxenbould. »Ich musste einen Hardcore-Rap hinlegen und konnte mein Lachen kaum zurückhalten. Ich kann aber sagen, dass Night hinter dem Monitor ebenso kicherte.«
In einigen Schlüsselszenen stößt noch Kathryn Hahn als Mutter von Becca und Tyler zu dem Hauptdarsteller-Quartett hinzu. Eine Mutter zu spielen, die von vorsichtiger Begeisterung darüber, dass ihre Kinder endlich ihre Großeltern kennenlernen, zum puren Entsetzen über das, was ihren Kindern weit weg von ihr passiert, hinsteuert, war für die Komödienschauspielerin sehr anstrengend.
Wie alle Beteiligten musste auch Hahn den schrecklichsten Teil der Dreharbeiten durchstehen: die eiskalten Temperaturen! Nach ihrer größten Herausforderung befragt, antwortet die Schauspielerin: »Neben der Kälte? Ich erinnere mich, dass ich während eines Schneesturms in meinem Mietwagen vom Hotel zum Produktionsbüro fuhr - ohne jegliche Orientierung und völlig auf mich allein gestellt. Um mich herum war ein weißer Ozean - so kalt, dass das Wasser in meiner Flasche auf dem Armaturenbrett vereiste. Da kam in mir definitiv ein Gefühl von Bedrängnis, Furcht und Hilflosigkeit auf, was aber wiederum sehr hilfreich war, um in die richtige Stimmung zu kommen.«
Und in die richtige Stimmung kommt man auch als Zuschauer, wenn man Shyamalans in seiner Heimat Pennsylvania gedrehte, ganz eigene Adaption von „Hänsel & Gretel“ betrachtet. Bis zur Auflösung des Rätsels um die Großeltern weiß man nicht so recht, ob man sich gruseln oder lachen sollte. Die Mischung aus gut ausgefeilten Charakteren und dem Dreh mit Handkameras, was zwangsläufig in einem „Was man sieht, bekommt man auch“ ohne visuelle oder computergenerierte Effekte resultiert, und oft natürlich wirkendem, manchmal ambivalentem Humor ist der Beweis, dass Filme mit Handkamera immernoch nicht Out sind, dass man diese auch optisch angenehm inszenieren kann, und, dass M. Night Shyamalan mit seinem bislang billigst produzierten Film noch lange nicht außer Atem gekommen ist. ■ mz