Lee Chandler ist ein schweigsamer Einzelgänger, der als Handwerker eines Wohnblocks in Boston arbeitet. An einem feuchtkalten Wintertag erhält er einen Anruf, der sein Leben auf einen Schlag verändert. Das Herz seines Bruders Joe hat aufgehört zu schlagen. Nun soll Lee die Verantwortung für seinen 16-jährigen Neffen Patrick übernehmen. Äußerst widerwillig kehrt er in seine Heimat, die Hafenstadt Manchester-by-the-Sea, zurück. Doch ist Lee dieser Situation und den neuen Herausforderung gewachsen? Kann die Begegnung mit seiner (Ex-)Frau Randi, mit der er einst ein chaotisches, aber glückliches Leben führte, die alten Wunden der Vergangenheit heilen?
Kenneth Lonergan erzählt mit ruhigen und starken Bildern und einem herausragenden Casey Affleck, wie es ist, wenn normalen Menschen schier Unfassbares passiert. Der Film, der in der kleinen Gemeinde 20km nordöstlich von sowie in Boston spielt, wurde am Cape Ann bei Rockport ca. 10km weiter am Nasenzipfel von Massachusetts gedreht. »Anfangs war es sehr kalt, aber wunderschön«, erzählt der Regisseur. »In Cape Ann ist man nie weit vom Wasser entfernt. Ich liebte es, immer in der Nähe des Ozeans und den Buchten zu sein. Ich liebte es, auf einem Boot und in den Häfen, Werften und Häusern von Manchester, Gloucester und Beverly zu drehen. Ich liebte es sogar noch, als wir das Dreifache an Überstunden gearbeitet hatten und ich nur noch ins Bett und nie wieder aufstehen wollte.«
Manchester by the Sea ist Kenneth Lonergans dritte Spielfilm-Regiearbeit und für 6 Oscars® nominiert. Bereits sein erster Film You can count on me mit Laura Linney, Mark Ruffalo und Matthew Broderick, der übrigens hier wieder in einer kleinen Rolle zu sehen ist, brachte ihm 2001 zwei Nominierungen ein, ging dabei jedoch leer aus. Nach einer kreativen Pause meldete er sich 2011 mit dem Drama Margaret zurück, in dem er Anna Paquin Zeugin eines Busunfalls werden lässt. Ebenfalls mit dabei war wieder Mark Ruffalo sowie Matt Damon, der nun diesen Film mitproduziert hat.
Kenneth Lonergan hat damals auch die Drehbücher zu Reine Nervensache und Die Abenteuer von Rocky und Bullwinkle (2000) geschrieben, die allerdings Komödien und so ganz anders als seine selbst gedrehten Filme sind. Das einzig Komische an diesem Film hier ist die Tatsache, dass es ein Chandler-Film ist. Die Familie, um die es im Film geht, heißt genauso wie der Schauspieler, der den Bruder der Hauptfigur spielt. Doch Kyle Chandler, der zuletzt in Todd Haynes' Drama Carol sowie in der Netflix-Serie Bloodline zu sehen war, kann neben seinem Nachnamen nur eine Konfliktauslösung anbieten. Sein gutmütiges Spiel in den Rückblenden kann da nicht gegen das ausdrucksvolle Nichtssagen von Filmbruder Casey Affleck mithalten.
Casey Afflecks Frustspiel brachte ihm bereits zahlreiche Preise ein, u.a. den Golden Globe®. Der BAFTA- und der Akademiepreis sollten da auch drin sein. Dabei brauch er nur frustriert und traurig aus der Wäsche gucken. Den Rest erledigt die Geschichte. Eine recht langwierige Geschichte. Eine traurige und schmerzvolle Geschichte, erzählt in der Langsamkeit des Alltags. Kameramann Jody Lee Lipes benutzt dabei hauptsächlich standfeste Kameras, was Manchester by the Sea zu einem extrem ruhigen Film macht.
Aber diese Ruhe braucht er auch, um das volle Ausmaß dieser Tragödie ausschöpfen zu können. Die teils schönen Aufnahmen der Gegenden können jedoch nicht der äußeren wie auch inneren Kälte des Films entgegensteuern. Man leidet die ganze Zeit mit Lee mit, was durch die manchmal nervigen Choräle und dem auffällig deprimierenden Klaviergeklimper der von Georg Friedrich Händel komponierten Musik begleitet wird. Doch Kenneth Lonergan lässt zwischendurch immer wieder mal die Sonne ins Herz, was die Tragödie wie das wahre Leben aufhellt.
Wer allerdings den Film nur wegen Michelle Williams sehen will, sollte sich darüber im Klaren sein, dass sie zwar eine intensive Darstellung abliefert, im Film jedoch in nur wenigen Szenen zu sehen ist. Und bei aller Menschlichkeit, die uns Herr Lonnergan aufzeigt, so bleibt der Film doch eine Tragödie, die uns mitfühlen und hoffen lässt, es selber im Leben besser zu haben. Manchester by the Sea gehört jedenfalls zu der Kategorie Filme, die eigentlich niemand im Kino sehen will. Auch das digital gedrehte 16:9-Bildformat verlangt nicht unbedingt eine Leinwand. Der Film ist zwar gut erzählt und wird prima dargestellt, doch bis auf 2-3 Szenen kann der Film nicht wirklich mitreißen. Er wirkt dabei nicht langweilig, aber doch irgendwie lang.
Kenneth Lonergan dazu: »Man weiß nie, warum man das schreibt, was man schreibt. Ich vermute, dass der Antrieb, etwas zu schaffen, zu spezifisch in der persönlichen Psychologie des Künstlers verankert ist, um wirklich von Interesse für jemand anderen zu sein, aber man hofft, dass die Ergebnisse es sein werden. Was ich am Filmemachen am meisten liebe, ist der Prozess, in dem eine Geschichte, die anfangs in der Privatsphäre der eigenen Vorstellungskraft entwickelt wurde, zu einem emotionalen Besitz anderer Menschen wird. Die Geschichte wird genährt und blüht auf unter der Pflege, den Emotionen und Ideen deiner Mitarbeiter. Sie wird zu einer Art geteilter Fantasie, die allen gehört, bis sie schließlich an ein Publikum übergeben wird und, so hofft man, sie Teil ihres Innenlebens wird, so wie es die Filme wurden, die ich geliebt habe.« ■ mz