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Oskar und die Dame in Rosa - Interview mit Eric-Emmanuel Schmitt
Montag, 18.10.2010 | Autor: mz | Quelle: Kinowelt

Eric-Emmanuel Schmitt kam am 28. März 1960 in Sainte-Foy-lès-Lyon zur Welt, einem Vorort von Lyon. Sein Vater, der elsässische Vorfahren hatte, arbeitet als Physiotherapeut in Kinderkliniken, seine Mutter ist Hausfrau. Schmitt entstammt einer sportlichen Familie, denn in seiner Freizeit boxt der Vater, die Mutter betreibt Leichtathletik.

Nach eigener Aussage war Schmitt ein rebellischer Jugendlicher, der mitunter zur Gewalt neigte. Er entdeckte für sich die Philosophie, ein Fach, das er schließlich an einer der großen Pariser Eliteschulen studierte. 1987 schrieb er seine Doktorarbeit zum Thema „Diderot et la métaphysique“.

Doch bereits mit acht Jahren, als er Jean Marais als „Cyrano de Bergerac“ auf einer Lyoner Bühne erlebt, wusste er, dass er eines Tages Theaterdramen schreiben würde. Nachdem er mehrere Jahre an verschiedenen Gymnasien und an der Universität von Chambéry Philosophie unterrichtet hatte, schickte er 1990 sein erstes Stück unaufgefordert an seine Lieblingsschauspielerin Edwige Feuillère. Die reichte es begeistert an verschiedene Theaterregisseure weiter.

1991 erlebte „Die Nacht in Valognes“ seine Uraufführung an der Pariser Comédie des Champs-Elysées – der erste von vielen Bühnenerfolgen, die Schmitt zum meistgespielten Autor Frankreichs machten. Einmal standen drei seiner Stücke gleichzeitig auf den Spielplänen Pariser Theater.

Für seine Arbeiten erhielt Schmitt zahlreiche Preise, darunter mehrere Molières und den Großen Theaterpreis der Académie Française. Im Ausland, von Japan über Deutschland und London bis hin zum New Yorker Broadway, wurden seine Dramen ebenfalls mit großem Erfolg aufgeführt.

2003 wurde Schmitt, der nach Stationen in Paris und Irland heute in Brüssel lebt, auch vom deutschen Publikum entdeckt. Sein Kurzroman „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ erreichte aus dem Stand Platz Eins der SPIEGEL-Bestsellerliste und hielt sich dort monatelang auf den ersten Rängen. „Oskar und die Dame in Rosa“ eroberte ebenfalls die deutschen Büchercharts und in einer Theaterfassung auch die internationalen Bühnen.

Sein erfolgreiches Regiedebüt gab Eric-Emmanuel Schmitt mit Odette Toulemonde, der Verfilmung einer eigenen Erzählung. Seit 2008 besitzt Schmitt die belgische Staatsangehörigkeit. 2010 wurde er für seinen Erzählband „Concerto à la mémoire d'un ange“ mit dem wohl bedeutendsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet.

Woher kommt Ihre Lust, Filme zu machen?

Vielleicht daher, dass in meiner Kindheit das Kino ganz allein mir gehörte. Weder meine Eltern noch meine Schwester sahen sich im Fernsehen Spielfilme an, schon gar nicht die Filme, die im Rahmen des „Ciné-Club“ liefen. Ich machte mir also ganz allein einen Spaß aus meiner Filmbegeisterung, und in dieser Zeit entdeckte ich Lubitsch, Max Ophüls, Cocteau, Sirk, Greta-Garbo- oder Marlene-Dietrich-Reihen. Was mich an den Filmen am meisten interessierte, war ihre Inszenierung – wie man eine Geschichte so erzählt, dass sie einen wirklich packt. Damals träumte ich davon, Filmregisseur zu werden...

Und irgendwann vergaß ich es wieder. Ich vergaß es, weil ich mir ein anderes Ausdrucksmittel zu eigen machte: das Schreiben. Bekannt wurde ich mit meinen Arbeiten fürs Theater, später auch durch Romane. Aber ich blieb weiterhin begeisterter Cineast und eifriger Kinogänger. Dass ich durch Odette Toulemonde zum Filmregisseur wurde, erscheint mir immer noch wie ein Missverständnis. Aber es gab Menschen, die mir diesen Job zutrauten, weil ich in den Buchhandlungen und auf der Bühne ziemlich erfolgreich war. Ich hingegen wusste, dass ich bei meinem Regiedebüt restlos alles lernen musste: Die Arbeit im Team, die Technik, auch wenn ich vorher ein bisschen gebüffelt hatte, wie man Schauspieler führt und einen Film schneidet. Auf mir lastete ein fürchterlicher Druck! Immerhin musste ich beweisen, dass das Vertrauen, das die Leute in mich gesetzt hatten, gerechtfertigt war.

Wieso wollten Sie „Oskar und die Dame in Rosa“ unbedingt selbst verfilmen? War das eine Reaktion auf frühere Bearbeitungen Ihrer Bücher – oder einfach nur pure Lust?

Es war pure Lust. Ich wollte weder irgendwelche Fehler korrigieren noch anderen eine Lektion erteilen. Ganz und gar nicht! Mir war einfach so, als hätte ich schon sehr lange eine Verabredung mit Oskar und der Dame in Rosa.

Andererseits schien mir das Risiko zu groß, daraus meinen ersten Film zu machen. Ich musste erst Erfahrungen sammeln und üben, am besten mit einer leichten, charmanten Wohlfühlgeschichte. Also versuchte ich mein Glück mit Odette Toulemonde.

Welche Erinnerungen haben Sie an die Entstehung von Oskar und die Dame in Rosa?

„Oskar“ war ein Erfolg, der schlagartig kam und mit dem keiner gerechnet hatte. Und zwar, weil es um ein Tabuthema geht: Die Krankheit eines Kindes und dessen unvermeidlichen Tod. Beim Schreiben, aus einem inneren Bedürfnis heraus, sagte ich mir: ,Wenn es ein Buch gibt, das mein Publikum mit Fug und Recht verschmähen darf, dann dieses.' Aber das Gegenteil war der Fall. „Oskar und die Dame in Rosa“ hat meine Karriere grundlegend verändert. Plötzlich war ich ein Erfolgsautor. Diese Fabel traf die Menschen ins Herz.

Die ersten Leser waren Ärzte, die das Buch dutzendweise kauften und es ihrem Krankenhauspersonal oder manchen Kranken zu lesen gaben. Ausnahmsweise erhielt dieses nichtmedizinische Buch den Prix Hamburger, eine Auszeichnung der Akademie für Medizin. Dort war man der Meinung, „Oskar und die Dame in Rosa“ könne Krankenhäusern ein menschlicheres Antlitz verleihen und zu mehr Verständnis für die Situation der Kranken beitragen. Die zweite Säule des Erfolgs waren junge Leser. Plötzlich lasen Kinder in Oskars Alter das Buch, also Zehnjährige, die es weiterempfahlen, es an ihre Eltern und Großeltern ausliehen. So wurde daraus ein Mehrgenerationenbuch. 160 Wochen stand es in den Bestsellerlisten! Und es wurde in mehr als 40 Sprachen übersetzt, erscheint in immer neuen Auflagen...

Sie sagten einmal, dass Sie beim Schreiben bestimmte Bilder im Kopf hatten. Kehrten diese Bilder zurück, als Sie die Verfilmung vorbereiteten?

Absolut. Das Krankenhaus und seine Atmosphäre, der Arzt, die Kinder, die Flucht... Während ich die erste Fassung des Buches schrieb, sah ich all das schon genau vor mir. Und ich dachte: Wenn dies ein Film wäre, würden uns diese Szenen erlauben, das Krankenhaus zu verlassen...

Fiel Ihnen die Adaption Ihres eigenen Buches leicht?

Jedenfalls erforderte sie einen langen Reifeprozess. Nebenbei gesagt: Immer, wenn mich Produzenten oder Regisseure um die Filmrechte baten, antwortete ich, das Buch sei unverfilmbar. Davon war ich wirklich überzeugt. Ich sagte ihnen: Man kann doch kein leidendes Kind zeigen...

Beschäftigte Sie das noch, als Sie das Drehbuch schrieben?

Selbstverständlich! Immerhin hatte ich anderen Leuten jahrelang versichert, dass man das Buch nicht verfilmen könnte. Ich stellte mir also eine Menge Fragen. Aber mit der Zeit gelang es mir, die Schwierigkeiten, vor die mich die Adaption stellte, in den Griff zu kriegen.

Nachdem ich entschieden hatte, nicht nur Oskars Geschichte zu erzählen, sondern auch die der Dame in Rosa (Im Buch wird die Geschichte ja ausschließlich aus der Perspektive des Kindes geschildert), fühlte ich mich erstmals auf der sicheren Seite. Der Film würde sich eng an den Emotionen des Buches orientieren, aber es käme noch etwas hinzu: der Werdegang der Dame in Rosa.

Wie bringt man es fertig, täglich in ein Kinderkrankenhaus zu gehen? Wie erträgt man das Unerträgliche? Wo holt man die Kraft her, anderen zu helfen und an das Leben zu glauben, obwohl man weiß, dass es nicht ewig währt? Ich wollte aus der Dame in Rosa keine Heilige machen. Sie strotzt vor Leben, hat Sex, steckt in finanziellen Schwierigkeiten – wie wir alle. Sie büßt auch nicht für irgendeinen „Fehler“, den sie bitter bereut.

Es ist einfach so, dass das Kind ihr helfen wird, sich selbst kennenzulernen. Und von ihrer tiefen Freundschaft profitieren beide: Rose nimmt Einfluss auf Oskars Leben, und Roses Leben wird durch Oskar verändert. Der Bengel hilft ihr zu begreifen, dass sie nicht nur Rosinen im Kopf hat, dass sie ein guter Weggenosse sein kann, dass tief in ihrem Inneren eine unschätzbare Großzügigkeit schlummert. Im Grunde hilft er ihr, auf die Welt zu kommen, während sie ihn auf seinen letzten Tagen begleitet. Als ich das begriff, sagte ich mir, dass sich die ganze Sache lohnen könnte.

Es war bestimmt nicht leicht, die passenden Schauspieler zu finden. Wann dachten Sie zum ersten Mal an Michèle Laroque?

Noch bevor ich mit dem Schreiben anfing. Ihre Wahl stand für mich außer Frage. Ich stellte mir die Figur bissig, sarkastisch, nervös und schroff vor, und Michèle hat von alledem etwas. Gleichzeitig aber auch diese gewisse Eleganz, Sanftheit und Menschlichkeit. Ich fand, dass Michèle sowohl die Dornen als auch die Blütenblätter hat, die es braucht, um eine Rose spielen zu können...

Und Amir in der Rolle des Oskar – wie kamen Sie auf ihn?

Ich hatte panische Angst davor, kein geeignetes Kind zu finden. In der Vorbereitungsphase sagte ich immer wieder: Wie um Himmels willen soll ich einen Film drehen mit einem Hauptdarsteller, den ich nicht kenne? Ich weiß ja nicht einmal, ob es ihn überhaupt gibt! Ich sah Amir zum ersten Mal auf einer Videokassette, auf einem Standbild. Ich weiß noch, dass ich dachte: Hoffentlich kann er auch gut spielen, denn vom Aussehen her passt er perfekt.

In dem Moment, als er zu sprechen begann und ich sein Timbre vernahm, seine Stimme, seine Intelligenz, seine Lebensfreude, war ich überzeugt, dass wir unseren Oskar gefunden hatten. Mehr noch: Ich war regelrecht verzaubert! Aber es ging nicht nur mir so. Er nahm alle gefangen, die an dem Film mitwirkten. Michèle war wie hypnotisiert. Max von Sydow erklärte mit der ganzen Autorität seiner 1,97 Meter: »Er ist einer der besten Schauspieler, die ich je kennengelernt habe.« Amir ist, sein Name legt es irgendwie nahe, wirklich ein Prinz!

Hat die Wahl von Mylène Demengeot etwas mit den Filmen Ihrer Kindheit zu tun, vielleicht mit den Fantomas-Filmen?

Oh ja! Ich war der Meinung, Mylène würde sich gut als Mutter von Michèle Laroque machen, und so habe ich die Rolle extra für sie geschrieben. Sie spielt eine Mutter, die ein wenig kindisch und affektiert wirkt, wie eine in die Jahre gekommene Fee oder Prinzessin. Diese Figur hilft uns zu verstehen, wieso Rose allergisch ist gegen alles Sentimentale.

Aber die beiden haben auch einiges gemeinsam. Sie können ziemlich bärbeißig sein, und sie haben ein größeres Herz, als sie zu zeigen bereit sind. Sie versuchen sich vor ihren Gefühlen zu schützen, vor dem Leben, vor der Liebe... Aber es gibt Augenblicke, da kann man sich nicht mehr davor schützen. Mylène weiß das, als Frau ebenso wie als Schauspielerin.

War es schwierig, die Szenen zwischen Oskar und Rose zu drehen?

Einerseits war es nervenaufreibend. Andererseits konnten wir es morgens kaum erwarten, ans Set zu kommen. Mir ist aufgefallen, dass es bei anstrengenden Sequenzen häufig die Kinder waren, die dafür sorgten, dass wir Erwachsenen uns besser fühlten. An dem Tag, an dem ich Amir sein letztes Kostüm zeigte, das Weiße, sagte er zu mir: »Klasse, mein Schlafanzug zum Sterben!« Wir Erwachsenen neigen dazu, die Dinge viel ernster zu nehmen als sie sind. Kinder haben einfach nur Spaß am Spielen und freuen sich, eine schöne Geschichte zu erzählen, in eine fremde Haut zu schlüpfen, Gefühle auszudrücken. Seltsam, dass wir diese Leichtigkeit verlieren, wenn wir, mutmaßlich, reifer werden.

Fiel es Ihnen beim Schneiden des Films schwer, gefühlsmäßig die richtige Balance zu finden?

Präzision ist für mich zur Obsession geworden. Präzision der Dialoge, Präzision des Spiels, Präzision der Emotionen – darum geht es mir, um jeden Preis. Aber natürlich ist das eine sehr subjektive Angelegenheit, im Gegensatz etwa zur Präzision in der Musik. Was für ein Beruf! Ständig versucht man, unwägbare Dinge einzufangen... Aber um wieder auf den Filmschnitt zurückzukommen: Ich wollte ihn so gestalten, dass der Zuschauer sich emotional nicht manipuliert fühlt.

Dabei hat mir Michel Legrand sehr geholfen. Er sah die täglichen Fortschritte beim Filmschnitt, und er bat mich, ihm Zeit zu lassen, um seine Gefühle zu verarbeiten und die Musik entsprechend zu komponieren. Michel Legrand und ich sind seit etlichen Jahren befreundet. Bei diesem Film war er es, der mich, den Schriftsteller, dazu brachte, auf die Kraft von Bildern ohne Dialoge zu vertrauen – also auch auf die Kraft der Musik!

Fürchteten Sie sich davor, Oskars Sterben zu drehen?

Und wie! Max nahm es total mit. Michèle ließ in den Drehpausen hemmungslos ihren Gefühlen freien Lauf, die sie während der Aufnahmen unterdrückte. Was mich angeht, so rührte ich mich ausnahmsweise nicht von meinem Monitor weg. Denn wenn ich am Set mit jemandem sprach, fing ich sofort an zu weinen. Die Techniker starrten mit rot geränderten Augen an die Decke.

Natürlich haben wir hinterher alle darüber gelacht. Michèle und ich nannten diese Momente unsere „Zwiebeltage“. Alle, die am Dreh beteiligt waren, von den Kindern bis zu den Technikern, wollten diese Geschichte erzählen. Irgendwo waren wir also auf diese emotionalen Höhepunkte vorbereitet. Mich haben sie trotzdem sehr aufgewühlt. Ich bin es gewöhnt, beim Schreiben, also ganz allein für mich, etwas zu spüren. Dieser Film hat mir gezeigt, wie schön es sein kann, Gefühle zu teilen. ■

Interview mit Komponist David Newman Interview mit Michèle Laroque