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Coco Chanel & Igor Stravinsky - Interview mit Jan Kounen
Donnerstag, 15.4.2010 | Autor: mz

Der 1964 im niederländischen Utrecht geborene Jan Kounen drehte seine ersten Kurzfilme an der Ecole des Arts Décoratifs in Nizza. Nach dem Abschluss seines Studiums arbeitete er als Kameraassistent und Regisseur zahlreicher Video- und Kurzfilme. 1989 brachte ihm sein Kurzfilm Gisele Kerosene den ersten bemerkenswerten Erfolg ein und gewann auf dem Festival du Film Fantastique in Avoriaz den Hauptpreis seiner Kategorie.

In den frühen 90er Jahren arbeitete Kounen für die Werbeindustrie und führte bei zwei weiteren, sehr anerkannten Kurzfilmen Regie: Vibroboy und Le dernier chaperon rouge mit Emmanuelle Béart. 1996 drehte er seinen ersten Langfilm Dobermann mit Vincent Cassel in der Hauptrolle.

Im Anschluss reiste Kounen mehrere Male nach Mexiko und Peru und tauchte in die Welt der Ureinwohner dieser Länder ein, bevor er 2004 mit dem psychedelischen Western Blueberry und der Fluch der Dämonen auf die große Leinwand zurückkehrte. In diesem Film adaptierte er die berühmten Comics von Jean-Michel Charlier und Jean Moebius Giraud. Wieder übernahm Vincent Cassel die Hauptrolle.

Im selben Jahr vertiefte Kounen die Studien über die traditionelle Medizin Lateinamerikas mit dem Dokumentarfilm Otherwords. Nach dem Dokumentarfilm Darshan – Die Umarmung von 2005 betrat Kounen mit der Komödie 39,90 (OT: 99 Francs) ein neues Universum. 39,90, mit Jean Dujardin in der Hauptrolle, ist eine wilde Satire auf die Welt der Werbung, basierend auf Frédéric Beigbergers gleichnamigen Bestseller.

Wie haben Sie sich an Coco Chanel & Igor Stravinsky herangetastet?

Anfangs mit Hilfe diverser Biografien und Aufzeichnungen. Ich habe sehr viel recherchiert über die Zeit, das russische Ballett und die Charaktere, die darin vorkommen. Claudie Ossard schlug mir das Projekt vor, als bereits ein erstes Drehbuch von Chris Greenhalgh existierte. Seinen Roman dazu habe ich natürlich sofort verschlungen.
Anschließend haben wir zusammen am Drehbuch gearbeitet. Ich schlug ein paar zusätzliche Szenen vor, dafür haben wir Anderes weggelassen. Das Ganze hat ein paar Wochen gedauert, in denen ich mit Chris’ Einverständnis meine eigene Welt in die Geschichte mit einfließen ließ.

Sie sagten einmal: Um einen Charakter wirklich lebendig darstellen zu können, muss man ihn „kennenlernen“. Wie haben Sie Igor Stravinsky und Coco Chanel kennengelernt – und wie war dieses Treffen?

Es ist sehr seltsam, die Welt einer Figur zu betreten, die tatsächlich gelebt hat und sogar zu einer wahrhaftigen Legende wurde. Igor Stravinsky begegnete ich mit Hilfe seiner Musik. Ich kannte „Le sacre du printemps” bereits, aber um mich einzustimmen, hörte ich das Werk nonstop ungefähr dreißig Mal hintereinander im Dunkeln. Danach war mir die Bedeutung dieser Komposition zwischen all den anderen Werken Stravinskys klarer.
Bei Coco Chanel lief es anders ab. Sie „traf” ich in ihrerWohnung, als ich dort einen ganzen Tag verbrachte. Ich berührte die Gegenstände, die Möbel und Kunstobjekte, mit denen sie sich umgeben hatte, ich las in ihren Büchern. Es sind bewegende Augenblicke, wenn man plötzlich spürt, dass man den Toten gegenüber eine Verantwortung hat.

Ihr Film zeigt beide Seiten der Personen, die private und die öffentliche.

Diese zwei Menschen sind längst Legenden geworden. Erst der etwas intimere Blick auf sie erlaubt es jetzt, sie wieder als echte, geheimnisvolle Persönlichkeiten wahrzunehmen. Genau genommen sieht man im Film nicht Igor Stravinsky oder Coco Chanel, wie sie tatsächlich damals gelebt haben – sondern ihre Essenz. Das, was sie ausmachte und das, womit sie die Welt bis heute prägten.

Wie haben Sie diesen komplexen Figuren Leben eingehaucht?

Dafür haben die Schauspieler gesorgt. Anna hatte sich schon lange Zeit mit Chanel beschäftigt. Mads ersann seine ganz eigene Version von Igor Stravinsky. Wir hatten vor den Dreharbeiten zum Glück ein wenig Zeit, uns ausführlicher vorzubereiten. Mads musste Russisch und Klavier spielen lernen.
Die drei Hauptdarsteller verbrachten drei Tage damit, jede Szene einzeln durchzusprechen, über die Motivationen, Frustrationen und die Persönlichkeiten ihrer Figuren zu reden. Mit diesem Grundstock kamen wir während der Dreharbeiten sehr rasch zu den wirklich entscheidenden Überlegungen.

Zu welchem Zeitpunkt stießen Mads Mikkelsen, Anna Mouglalis und Elena Morozowa zu dem Projekt?

Mads war einer der Gründe, dass ich bei diesem Film überhaupt zusagte: Er ist ein Schauspieler, mit dem ich unbedingt einmal arbeiten wollte. Egal ob in Adams Äpfel oder in Nach der Hochzeit, er beweist in jeder Rolle ein enormes Talent und besitzt einen sicheren Instinkt dafür, seine Figuren glaubwürdig erscheinen zu lassen.
Anna repräsentiert für mich Chanel: Ihre Stimme, die Art, wie sie sich bewegt, alles an ihr war einfach schon diese Rolle. Anfangs hatte ich meine Zweifel, ihr großes Handicap war die Tatsache, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits als Muse von CHANEL galt. Aber sie füllte die Rolle einfach vollständig aus. Und das war schließlich die Hauptsache.
Elena traf ich bei einem Casting in Moskau. Ich sah mir damals eine Menge Schauspielerinnen an, aber eigentlich wusste ich schon nach dem ersten Vorsprechen, dass meine Suche nach Catherine Stravinsky zu Ende war. Sie sollte sehr attraktiv sein und sehr stark. Sie sollte eine ernsthafte Rivalin sein für Coco Chanel und das Dilemma, in dem sich Igor Stravinsky befand, durch ihr Auftreten noch größer machen.

Coco Chanel & Igor Stravinsky beginnt mit der Premiere von „Le sacre du printemps” am Théâtre des Champs-Élysées im Jahre 1913. Wie kamen Sie auf die Idee dieser spektakulären Inszenierung der Originalaufführung mit dem Nijinsky-Ballett auf der Bühne?

Einige meiner Haare sind weiß geworden in dieser Zeit, das kann man jetzt nur nicht erkennen, weil ich sie alle abrasiert habe! Zu Beginn hatten wir nur die historischen Fakten, denen wir so genau wie möglich folgen wollten. Wir nahmen uns die Freiheit, Coco Chanel mit Misia zusammen ins Theater laufen zu lassen, auch wenn wir wussten, dass es sich nicht exakt so ereignet hatte. Wir hatten auch weniger Tänzer auf der Bühne. Der Rest ist aber historisch genau.
Beispielsweise sprang der Choreograph Vaslav Nijinsky plötzlich mit auf die Bühne, um seinen Tänzern das Tempo anzuzeigen, weil diese inmitten des unglaublichen Lärms im Zuschauerraum das Orchester nicht mehr hören konnten. Dominique Brun sollte das Ballett von damals wieder auferstehen lassen. Ihre Neuauflage von Nijinskys „L’Après-midi d’un faune”, für die sie viele Aufzeichnungen von damals aufgespürt hatte, hat mich begeistert.
Der Skandal allerdings war unvergleichlich, deswegen diskutierten wir lange hin und her, wie wir ihn darstellen könnten. Glücklicherweise fanden sich auch dazu historische Notizen, die uns sehr geholfen haben. Entscheidend war die Verbindung von Musik und Dialog in den Szenen. Ich musste sehr genau lernen, in welcher Minute welches Instrument gespielt wurde, um es auf das Publikum im Theater, die Musiker und Tänzer abzustimmen.

© Eurowide/PaCo

Sie sagten vorher, es wäre vermutlich die komplizierteste Szene, die Sie jemals gedreht hätten. War es nun tatsächlich so?

Wir arbeiteten normalerweise mit den Kostümen schon am frühen Morgen. Wenn dann die Schauspieler kamen, ließen wir die Kamera nach ein paar kurzen Proben laufen. Mit „Le sacre du printemps” war es unmöglich, so vorzugehen. Wir durften nur einen sehr knapp bemessenen Zeitraum im Theater drehen, deswegen mussten wir manche Szenen im Studio nachdrehen.
Es gab mehr als 1000 Kleinigkeiten zu beachten, 25 Tänzer waren anzuweisen, 70 Musiker und vier Bühnenbilder. Es war ein monumentales Puzzlespiel, das uns drei Wochen Vorbereitungszeit kostete. Ich nahm die Tänzer auf Video auf. Mit der Cutterin Anny Danché zusammen sahen wir uns andere Aufführungen von „Le sacre du printemps” an und nahmen sie auf, um anschließend das Timing und die Darstellung der Geschichte besser beurteilen zu können. Schließlich fertigte ich ein vollständiges Storyboard der Szene an.
Als wir die Szene schließlich tatsächlich drehten, mussten wir jeden Abend alles wieder abbauen und am nächsten Morgen wieder von vorne beginnen, da abends ja immer die regulären Theateraufführungen auf dieser Bühne stattfanden. Wir hatten wirklich enormes Glück, dass alles so hervorragend geklappt hat. Die Leute vom Theater waren uns dabei eine große Hilfe. Sie waren von Anfang an sehr freundlich und hilfsbereit und bewiesen sehr viel Geduld mit uns. Ja, und es war wirklich die anstrengendste Szene, die ich jemals gedreht habe. Besonders, weil ich so wenig Zeit dafür hatte: Nur drei Tage im Theater und anschließend vier im Studio.

Der Film verbindet einzelne Schritte der Liebesbeziehung von Coco Chanel und Igor Stravinsky mit einzelnen Phasen ihrer Arbeit, mit „Le sacre du printemps” und CHANEL Nº5.

Ich habe versucht, das Verhältnis zwischen dem Künstler und seiner (oder ihrer) Arbeit, Persönlichkeit und Ausdruckskraft darzustellen. Ich wollte die Fähigkeit eines Künstlers zeigen, dramatische Ereignisse des eigenen Lebens in die Kunst einfließen zu lassen und gleichzeitig auch immer wieder sein eigenes Leben der Kunst zu opfern.

Ihre Mitarbeiter sagen von Ihnen: „Jan erkennt sich in Stravinskys Wildheit wieder.“ Stimmt das?

Ich denke nicht, dass Stravinsky so ein wilder Kerl war. Eine Gemeinsamkeit, die ich feststellen konnte, ist beispielsweise, dass wir beide Menschen sind, die dazu neigen, andere anzutreiben. Und dass wir beide auch so manchen herben Rückschlag einzustecken hatten.
Meine monumentale, unvergessliche Ohrfeige, ähnlich zu Stravinskys Uraufführung in Paris 1913, waren die letzten zwanzig Minuten von Blueberry. Ich hatte das Gefühl, in dieser Szene steckt meine gesamte künstlerische Energie, ich hatte enorme Risiken auf mich genommen, um sie so beenden zu können, wie es mir vorschwebte – und das Publikum buhte.

Karl Lagerfeld entwarf extra für den Film ein spezielles Kleid. Dadurch verbindet sich die Ära des Hauses CHANEL von heute sehr elegant mit jener von damals. Wie lief die Zusammenarbeit mit CHANEL ab?

Karl und Anna kennen sich sehr gut, und so war es nur folgerichtig, dass er für ihren letzten Auftritt ein zeitlos-schlichtes Kleid entworfen hat. Die Treffen mit Karl Lagerfeld und dem Haus CHANEL waren für mich sehr wichtig. Und die Zusammenarbeit war tatsächlich völlig unkompliziert und sehr angenehm.
Lagerfeld erzählte uns viel über die Kleider und Kostüme von damals und über Coco Chanels Angewohnheiten. Er öffnete sogar ihren privaten Kleiderschrank für uns. Und Chatoune, unsere Kostümdesignerin, sprang vor Freude darüber beinahe so hoch wie Weiland Nijinsky! Wir haben in Coco Chanels Wohnungen gedreht und durften für unsere Dreharbeiten im Ritz sogar ein paar persönliche Dinge von ihr für unsere Ausstattung verwenden.
Bel-Respiro, die Villa von Coco Chanel, ist der wichtigste Drehort in diesem Film. Dort schlagen die Herzen der Genies höher, dort explodieren Leidenschaft und Kreativität. Dort erkennt auch Catherine, Igors Frau, ihren sich immer weiter verschlechternden Gesundheitszustand.

Wie gelang es Ihnen, dieses Haus mit seiner gesamten Innendekoration aufzubauen, obwohl weder die Villa selbst noch irgendein Foto davon existierten?

Unsere Setdesignerin Marie-Hélène Sulmoni und ihr Team haben eine ganze Villa vollständig umgestaltet. Wir haben uns für ein Haus entschieden, das größer war als das eigentliche Bel-Respiro, damit wir alle mehr Platz zum Arbeiten haben. Meiner Ansicht nach ist die Musik eine Vergrößerung Igor Stravinskys, und dieses Haus ist eine Vergrößerung von Coco Chanel.

Die Musik spielt im Film eine entscheidende Rolle. Wie kombinierten Sie für den Soundtrack Igor Stravinskys Musik mit den Kompositionen von Gabriel Yared?

Gabriel Yared stieß erst relativ spät zum Team dazu. Wir passten seine Musik unseren Bildern an. Und trotzdem fand er eine Möglichkeit, seinen eigenen Platz inmitten unserer Szenen und der Kompositionen Stravinskys zu finden und zu behaupten. Gabriel besitzt ein gutes Gespür für Stil und dafür, mit Musik bestimmte Gefühle zu erzeugen und zu verstärken. Die Aufnahmen mit ihm in den Abbey Road Studios in London gehören für mich zu den schönsten Erinnerungen an die Arbeit an diesem Film. ■

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